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Folge 9: Letzte Dinge und die Menschenbilder in der Rennaissance

von Thomas Jung | Dreistromgeschichten

Die brennende Welt zerfällt zu Asche. Ein Soundtrack dröhnender Posaunen erweckt die Toten. Durch ein Inferno aus Feuer und Vernichtung zwingt sie eine Macht vor einen Richterthron. Dort wird ein unbestechliches Buch aufgetan. Ein Verfahren, in dem es um nichts weniger geht als die Ewigkeit.

Szenen, die im Drehbuch eines Hollywood-Blockbusters stehen könnten, aber in – und trotz – ihrer fremdartigen Drastik Teil der Liturgie waren und, wenngleich seltener, immer noch sind.

Wir stehen im November, während ich diesen Podcast aufnehme. Die Natur zieht sich zurück, es wird kühler. Immer länger die Nächte, und bei trübem Wetter scheint es irgendwann gar nicht mehr so wirklich Tag werden zu wollen. Im astrologischen Denken sind dem Sternbild des Skorpion die Themen Umwandlung, Verwandlung, Abschied zugeordnet. Auch die großen Totengedächtnisse der christlichen Kirchen haben in dieser unwirtlichen Jahreszeit ihren Platz: Der Allerseelentag ist es in der katholischen Welt, der Toten- oder Ewigkeitssonntag in der evangelischen. Die gottesdienstlichen Lesungen beschäftigen sich mit dem, was die Theologen als eschatologische Themen bezeichnen. Unter Eschatologie verstehen sie die sogenannten letzten Dinge, der Anbruch der neuen Welt, die Vollendung der alten Schöpfung und Errichtung einer neuen Welt durch Gott.

Diese und die kommenden Episoden sind Bausteine zum Verständnis. In späteren Folgen soll es darum gehen, wie die kreativen Geister in den Jahrhunderten Liturgie und Kirchenmusik verwendet haben. Um künstlerische Bezüge und Querverbindungen zu verstehen, ist es aber hilfreich, die liturgischen Formen zunächst einmal für sich zur Kenntnis zu nehmen. Das soll in kürzeren Dreistromgeschichten geschehen. Zugleich schimmert durch, wie eng die liturgischen Zusammenhänge mit dem Jahreskreis verflochten sind. Das Kirchenjahr als Ganzes bildet in der Tat eine Art „Gesamtkunstwerk“. Aber da wir mitten im Herbst sind: Beginnen wir mit dem Ende des Kirchenjahres.

Das Kirchenjahr endet im November. Schon das erstaunt viele Menschen, die mit Kirche wenig zu tun haben. Katholischerseits fällt auf den letzten Sonntag im Kirchenjahr das „Christ-Königsfest“. Die Evangelische Kirche feiert den Totensonntag, oder auch Ewigkeitssonntag und gedenkt der Verstorbenen des sich dem Ende entgegen neigenden Jahres. Dasselbe geschieht in der Katholischen Kirche drei Wochen zuvor, an Allerheiligen und am Allerseelentag, also stets am 1. und 2. November.

Die Wochen vor dem Advent stehen im Zeichen von Abschied, Vergänglichkeit und dem Gedächtnis an das Ende des Lebens. Ihr ahnt es vielleicht: Der November ist in seiner ganz eigenen Färbung geeignet wie kein zweiter Monat, um die Bausteine der Liturgie am Beispiel des Requiems zu betrachten. Die Messe steht, auch innerhalb der Kirchenmusik, in herausgehobener Position. Das Requiem ist genau das, eine Messe: Die „Missa pro defunctis“, die Messe für die Verstorbenen, wie es im Latein der Kirche heißt. Als „Missa“ folgt das Requiem der immer gleichen formalen Struktur der normalen Katholischen Messe, wenngleich mit einigen Abweichungen.
In der Musik ist das nicht immer so. Das „Deutsche Requiem“ von Johannes Brahms zum Beispiel ist von ihm selbst als eine Trostmusik für die Lebenden entworfen und geschrieben worden. Mit der katholischen Seelenmesse für die Toten hat das Brahms’sche Requiem weder formal noch inhaltlich zu tun.

Aber schauen wir auf das ursprüngliche Original. Wer einige katholische Gottesdienste gehört hat, wird feststellen, dass es Teile gibt, die immer wieder und wieder, im gleichen Wortlaut vorkommen. Drei davon finden sich im Requiem wieder: Das Kyrie, das Sanctus und das Agnus Dei. Diese stets wiederkehrenden Teile der Messe, es sind fünf, je nach Zählung auch sechs, sind unter dem festen Begriff des „Ordinarium“ zusammengefasst.

Das Requiem folgt demnach einem verkürzten Ordinarium, hat aber, im Gegensatz zur normalen Messe, ganz eigene Textpassagen. Am auffallendsten ist vermutlich das große Gedicht im Zentrum des Requiems, das „Dies irae“. Formal ist es eine Sequenz, eine der kreativsten Gattungen des Hochmittelalters, über die ich eine eigene Folge mache. Verfasser des „Dies irae“ ist vermutlich (oder galt zumindest sehr lange) der Franziskanermönch Thomas von Celano: Er lebte im 13. Jahrhundert, kannte Franz von Assisi, gilt als dessen erster Biograph.
Celanos Text zeichnet das Jüngste Gericht nach; unserer naturwissenschaftlich geprägten Welt sind die drastischen Bilder fremd geworden. Dennoch erzählen sie, im Rahmen der Liturgie, eine Geschichte. Geschichte? Welche Geschichte sollte der formale Rahmen eines Gottesdienstes erzählen?

Nun…, das Requiem ist nicht „zufällig“ in den 1560-Jahren, im Rahmen des Trienter Konzils, als verbindlicher Ausdruck des Totengedächtnisses der katholischen Liturgie bestätigt worden. Das Trienter, oder auch Tridentinische Konzil, ist letztlich ein jahrzehntelanges Ringen der katholischen Kirche um die Antworten, die sie der Reformation entgegenstellen sollte. Ein Konzil ist eine offizielle Versammlung der hohen und höchsten kirchlichen Würdenträger. Zwischen 1545 und 1563 fand ein solcher Rat in der oberitalienischen Stadt Trient statt. In drei großen Perioden wälzte sich dieses Konzil durch nicht ganz drei Jahrzehnte, bis an deren Ende die katholische Kirche in der Form entstanden ist, wie wir sie im Grunde heute noch kennen.
Unter anderem legt das Konzil auch die Eckpfeiler des katholisch-kirchlichen Menschenbildes fest, einschließlich des verstorbenen Menschen.

„Requiem“. Wie so oft in der Liturgie, kommt der Name aus den Anfangsworten eines zugrundeliegenden Textes, sei es ein Psalm, ein anderer Bibeltext, oder auch, wie hier, eine freie Dichtung. „Requiem aeternam dona eis, Domine“, mit diesen Worten beginnt der Einzugsgesang, der Introitus, des Priesters am Beginn der Messe. „Die ewige Ruhe gib‘ ihnen, Herr“, wäre eine mögliche Übersetzung. „Et lux perpetua luceat eis, „und das ewige Licht leuchte ihnen“, so geht es weiter.
Also: Ein Mensch ist verstorben. Für diesen Menschen bittet die Nachwelt um Frieden und „ewige Ruhe“. Zugleich ist damit gesagt, dass der Mensch schwach ist. Offensichtlich ist er sterblich, aus sich selbst heraus nicht autonom, vielmehr zurückgebunden an eine höhere Macht. Religion heißt letztlich genau dies: Das „re ligere“ ist die Rückbindung an…, ja – an was? An wen?
Das Christentum antwortet: An den „Kyrios“, den „Herrn“. Dieser „Herr“ wird gleich im Anschluss gebeten, sich der Menschen im allgemeinen und, hier im Requiem, der verstorbenen Seele im Besonderen zu erbarmen. Wenn in jeder Messe das Kyrie eleison“ am Beginn steht, hat das genau diesen Hintergrund: Der Mensch, im religiösen Weltbild das schwächere Geschöpf, bittet die größere Macht ihm gegenüber um Erbarmen – und in dem Wort steckt Barmherzigkeit.
„Kyrie eleison“, dieser erste Teil des Ordinarium ist zugleich der einzige, der keinen biblischen Ursprung hat. Aber auch dazu in der nächsten Folge mehr.

Der Mensch hier – die Macht dort. Welche Macht ist das? Ist sie beschreibbar? Davon berichtet in der normalen Messe der zweite große Ordinariumsteil, das Gloria. Im Requiem taucht das Gloria nicht auf. Es schimmert, als Teil des Introitus, kurz im Eingangsgesang auf: “ Te decet hymnus, Deus, in Sion“, also: „Dir sei das Loblied, Gott, auf dem Zion“. Der Zionsberg war der Tempelberg in Jerusalem.
Dieser einzige Satz nur, dann folgt mit dem Gesang an den Stufen zum Altar wieder die Besinnung auf die Vergänglichkeit der Menschen: Die Bitte um Ruhe und das ewige Licht wird wiederholt. Danach die Zusage, dass der Gerechte im Gedächtnis fortlebt, „In memoria aeterna erit justus“, dass er das Böse, was er hört – und im folgenden hören wird, nicht zu befürchten hat: „ab auditione mala non timebit.“
Und weiter, im anschließenden Tractus, einem weiteren Gesang, die Bitte, den Verstorbenen die Schuld zu vergeben und sie von der Rache des Gerichtes zu beschützen.
Gradualien und Tracti sind Formen der mittelalterlichen Gesänge. Auch hierzu mache ich gelegentlich eine eigene Dreistromgeschichte.

Introitus, Graduale und Tractus sind übrigens Texte des Propriums. Das Proprium fasst als Sammelbegriff alle Passagen mit wechselnden Texten zusammen. Psalmen und Lesungen beispielsweise gibt es in jeder Liturgie, aber eben stets wechselnde. Das Propium steht damit dem Ordinarium gegenüber. Erst beide gemeinsam beschreiben den gottesdienstlichen Ablauf.

Hier, im Requiem, sind Introitus, Graduale und Tractus mit ihren tröstlichen Inhalten zum Verständnis der gesamten Totenliturgie zentral.
Denn: Ohne sie bleibt das folgende „Dies irae“ ein monströses Gemälde, das Furcht und Schrecken hinterlässt. Thomas von Celano hat in seinen Versen den Horror des Jüngsten Gerichtes zusammengefasst. „Dies irae, dies illa“, der „Tag des Zorns“, ein „Tag der Tränen“. David, König und Psalmist, und die Sybilla, jenes antike Orakel, das bei Zeichen des Unheils befragt wurde, werden als Zeugen aufgerufen.
Die Bilder des Grauens vom Beginn unserer Episode, in dem genialen, machtvollen Latein des Hochmittelalters: Die Welt, die in Asche zerfällt. „Saeclum“ schreibt Celano, also mehr als eine Welt. Ein Zeitalter, ein Menschenalter, in manchen Übersetzungen ist es das „Weltall“, das hier zerfällt. Durchdringende Gerichtsposaunen, denen niemand entkommt. Der Richter, der aus einer Schrift die Schuld aus dem irdischen Leben entnimmt und sein endgültiges Urteil spricht.
Der alttestamentliche Prophet Zephania beschreibt bereits Ähnliches: Nahe sei der gewaltige Tag Gottes, ein bitterer Tag, ein zorniger Tag, der auch die Starken erschüttert. Vermutlich haben diese Verse des ersten Zephania-Kapitels die mittelalterliche Sequenz inspiriert.
Aber: All‘ dieses Grauen, so die Zusage der Liturgie, braucht der Gerechte nicht zu fürchten, und der „Kyrios“ wird die Bitte im Tractus nach Schulderlösung und Rettung aus dem Grauen des Gerichtes erfüllen.
Und wie ein Rahmen folgen der Sequenz des „Dies irae“ weitere Bitten: Vorgetragen werden sie im Offertorium, also im Prozessionsgesangs, der die Priester zur Bereitung der Kommuninon und zum Altar begleitet. In der evangelischen Kirche würde man wohl von der Abendmahlsvorbereitung sprechen.
Die Verstorbenen jedenfalls, so heißt es im Offertorium, sollen von König Jesus Christus bewahrt sein vor dem Rachen des Löwen und dem Tartaros. Tartaros: Der lateinische Text spricht in der Tat von der tiefsten Hölle der griechischen Mythologie, dem Tartaros. Der Erzengel Michael möge die Seele vielmehr in’s himmlische Licht geleiten.
Dieses ewige Licht, so singt es schließlich die Communio, also der Gesang während der Austeilung, möge den Seelen in Ewigkeit leuchten, der Kyrios, möge den Seelen die ewige Ruhe geben, im Leuchten des ewigen Lichts.

Das Requiem ist quasi eine Art Reisebericht. Er beginnt mit der Bitte um das ersehnte Ziel: Ruhe im ewigen Licht Gottes. Dann wird der Verstorbene gleichsam an die Hand genommen, mit Trostworten an die Schwelle des Gerichts und der Weltzerstörung gebracht. Christus bewahrt die gerechten Seelen vor der Hölle und Michael, der Erzengel und Streiter Gottes, führt die Verstorbenen aus dem Grauen hinaus in die Ruhe und in’s ewige Licht Gottes: Der Kreis schließt sich.
Nur am Rande: Wenn ich die Liturgie des Requiem als Reisebericht lese, erinnert mich das an die großen Totenbücher der Menschheit. Das Tibetische Totenbuch beispielsweise tut genau das: Die Rezitationen nehmen die umher irrende Seele gleichsam an die Hand und führen sie durch die furchteinflößenden Abgründe der Zwischenwelt.

Ein kurzer Ausblick zum Schluss: Das Requiem und seine apokalyptischen Bilder. Woher kommen die eigentlich? Klar…, Thomas von Celano hatte ich erwähnt. Aber vor welchem Hintergrund dichtet er? Und warum wurden seine Bilderwelten im 16. Jahrhundert von höchster Ebene bestätigt? Das soll das Thema der nächsten Dreistromgeschichte werden.

Beitragsbild: Hans Memling: „Das jüngste Gericht“ (1471)

Quelle: Wikipedia

Musik im Audiopodcast

Verdi, Requiem

Künstlerseite Orchestre national de France (orchestra)
Igor Markevitch (conductor)
Verlagsinfo Paris: Radiodiffusion-télévision française, 1959.
Reissue Schattdorf: Gagnaux Collection
Urheberrecht
Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 4.0
Anmerkungen Recorded 1959, Mai 7, Théâtre des Champs-Elysées, Paris

Brahms, Deutsches Requiem

Künstlerseite University of Chicago Orchestra (orchestra)
Interpreten Kimberly Jones (soprano), Jeffrey Ray (baritone)
University Chorus, Motet Choir, Members of the Rockefeller Chapel Choir
James Kallembach (conductor)
Verlagsinfo Chicago: University of Chicago Orchestra
Urheberrecht
Creative Commons Attribution Non-commercial No Derivatives 3.0
Anmerkungen From archive.org. Performed 30 May 2010, Mandel Hall.

Reger: „Wer nur den lieben Gott lässt walten“

Eigene Aufnahme, Schuke-Orgel, Kreuzkirche, Wesseling