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Ein Puzzle aus Bach und moderner Kosmologie: Teil 2

von Thomas Jung | Dreistromgeschichten

Beitragsbild: Strahlung. Künstlerische Darstellung. Quelle: Media-Stock-Library

Zweiter Teil dieser Dreistromgeschichte

Ein Hinweis vorweg: Wer in den Grundlagen der Musik oder dem Konzept der „Baryonischen akkustischen Oszillation“ nicht zu Hause ist, möge bitte unbedingt den ersten Teil dieser Episode anhören und erst dann hier zuschalten. Dasselbe gilt für diejenigen, die beim Zuhören merken, dass bestimmte Fachvokabeln unklar sind. Im ersten Teil habe ich hoffentlich alles erklärt. Er ist die Basis, auf dem dieser und der schließende dritte Teil unserer Dreistromgeschichte aufbaut.

Ansonsten: Willkommen im zweiten Teil. Und Willkommen im frühesten Universum.

Wir haben also einen rasant expandierenden Kosmos, in den 10^-32 Sekunden nach dem Urknall bereits unser Sonnensystem bis hinter die Neptunbahn hineinpassen würde.
Kurz zu den Größenverhältnissen: Inflation bedeutet hier die Ausdehnung des Kosmos in der Zeitspanne zwischen 10^-35 Sekunden und ca. 10^-32 um etwa 50 Größenordnungen. Der Raum ist angefüllt mit superheißer, hochenergetischer Strahlung.
In dieses Strahlungskontinuum bildete sich die baryonische Materie (letztlich die stabilen Protonen. Keine Atome. Dafür war viel zu heiß!…). Woher kommt die Materie? Aus Einsteins Äquivalenzprinzip. Das bedeutet, dass Energie und Materie sich ineinander umwandeln. Die Strahlungsenergie war derart enorm, dass sich die Energie in dauerndem Wechsel in Materieteilchen umwandelte. Die wiederum zerstrahlten unter dem Beschuss hochenergetischer Photonen und anderer subatomarer Teilchen sofort wieder in Energie.

Neben den baryonischen Standardteilchen, aus denen später die Atome werden, entstand auch die Dunkle Materie. Die dunkle Materie wechselwirkt nicht mit elektromagnetischer Strahlung – also auch nicht mit Licht. So bleibt sie unsichtbar, daher ihr Name.
Woher wissen wir dennoch von ihr? Weil sie auf die Schwerkraft reagiert. Wir können die gravitativen Auswirkungen dieser Materieform messen, zum Beispiel anhand der Raotionsgeschwindigkeit von Galaxien. Deswegen gehen wir spätestens seit den 1970-er Jahren von der Existenz der Dunklen Materie aus, ohne diese bislang direkt nachweisen oder gar verstehen zu können.

Gut…, weiter. Dieses Zeugs, also die Mischung aus Baryonen und Dunkler Materie, war nach der inflationären Ausdehnung des heißen Universums nicht ganz gleichmäßig verteilt. Es gab Inseln mit mehr Materie, in denen die Gravitation aufgrund der höheren Masse etwas stärker wirkte. Der Grund ist einfach: Masse zieht Masse an.

Perspektivwechsel

Das Ostinato im Bass-Pedal zieht die Oberstimmen an sich: Was auch immer die Oberstimmen veranstalten, wenn sie alleine, unter sich sind: Sowie das Ostinato erklingt, sind sie an dessen harmonisches Gravitationszentrum gebunden.

Perspektivwechsel:
Baryonen reagieren, im Gegensatz zur dunklen Materie, nicht ausschließlich nur auf die Gravitation. Protonen, die dichter gepackt sind, werden schneller, stoßen aneinander, erzeugen erhöhte Temperatur. Denn: Temperatur ist letztlich nichts anderes als eine Form der Bewegungsenergie.

Mit zunehmender Temperatur erhöht sich der Strahlungsdruck. Der wird irgendwann stärker als die Gravitation. Die Strahlung treibt die baryonische Materie – und nur die Baryonen – vor sich her. Die Dunkle Materie nicht. Die Dunkle Materie wechselwirkt nicht mit den Photonen. Sie reagiert nicht auf die ultraharte Strahlung im frühesten Universum. Sie bewegt sich, aufgrund der Schwerkraft, langsam in Richtung der größten Masse-Ansammlung. Sonst tut sie nichts.

Perspektivwechsel

Die Oberstimmen stoßen sich gegenseitig ab, vereinigen sich. Früh schon, nach dem ersten auftreten des Ostinato, kommt eine dritte Stimme hinzu. Sie folgt wieder den Regeln der Fuge. Also doch eine Fuge? Eine mit Unterbrechungen? Durch das Gottes-Ostinato?
Andererseits schreibt Bach seine Fugen normalerweise nicht so dicht wie hier. Damit meine ich, dass es normalerweise immer Bereiche gibt, in denen nur zwei, seltener auch nur eine einzige Stimme erklingt. Hier, in unserem Stück, sind alle drei Oberstimmen dauer-präsent: Nachdem sie mit Takt 14 eingeführt sind, gibt es nur noch einen einzigen zweistimmigen Takt, kurz vor den letzten Pedal-Ostinato.

Perspektivwechsel

Nur die Baryonen also werden von der Strahlung verteilt. Der Raum zwischen ihnen wird größer, Temperatur und Strahlungsdruck sinken. Irgendwann übernimmt die Gravitation wieder das Zepter. Sie beginnt erneut damit, Baryonen und dunkle Materie zusammenzupressen. Die Temperatur steigt…, nun…, und so weiter, das Ganze beginnt von neuem.

Perspektivwechsel

Irgendwann übernimmt das Ostinato wieder das Zepter und steuert den harmonischen Verlauf der drei Oberstimmen. Sowie das Pedalostinato beendet ist, sind die Oberstimmen wieder frei, verteilen sich im harmonischen Raum. Die Abstände zwi schen dem Auftreten des Gottes-Ostinato werden immer größer. Merkt Ihr, wie Bach mit seiner Form spielt.

Perspektivwechsel

Merkt Ihr, wie die Gravitation mit der Materie spielt, während der Kosmos immer größer wird, sich immer weiter ausdehnt? Aber…, was hat das alles mit Akkustik zu tun?
Nun, im Laufe der Zeit entsteht ein Schwingungsmuster. Bereiche verdichteter Baryonischer Materie wechseln mit anderen Bereichen, die vergleichsweise wenige Baryonen enthalten. Diese Schwingungen verhalten sich wie akkustische Wellen, sprich: Wie Schallwellen. Daher der Name: „Baryonische akkustische Oszillation“.
So!…, kurze Pause? Da wir so viel über BWV 680 nachdenken, spiel‘ ich Euch zumindest die zweite Hälfte des Stücks einmal vor.

Johann Sebastian Bach: "Wir glauben all'", Schluss

von Thomas Jung | Aufnahme aus der Kreuzkirche, Wesseling

Astrophysiker können „Baryonische akkustische Oszillationen“ im Computer simulieren. Diese Simulationen liefern Materie-Verteilungsmuster. Aus dieser Verteilung lässt sich ablesen, wie die frühen Galaxien im Raum verteilt sein sollten. Warum ist das Wichtig? Nun…, ohne die dunkle Materie und die „Baryonische akkustische Oszillation“ gäbe es uns nicht.
Wieso?
Ihr erinnert Euch: Bewegung ist gleich Temperatur. In den ersten 380.000 Jahren nach dem Urknall war die Bewegungsenergie der Teilchen so hoch, dass das Universum von einem hochenergetischen, gleissenden Energie-Materie-Plasma gefüllt war. Das bedeutet: Es gab keine Atome. Jeder Versuch einer Teilchenbindung wurde von deren eigener Energie, von kollidierenden Nachbarpartikeln, von ultraharter Strahlung im Gamma- und Röntgenspektrum, sofort wieder zertrümmert.
Da die dunkle Materie aber eben nicht auf die Strahlung reagiert, sondern nur auf Schwerkraft, klumpt sie sich unter dem Einfluss der Gravitation zusammen. Sie bildet auch in dieser Strahlungshölle Massezentren aus .

Erst nach diesen 380.000 Jahren war der Kosmos kühl genug, dass sich Materie und Strahlung trennten. Rekombination nennen die Physiker diese Epoche. Erst jetzt entstehen die Atome. Die freien Elektronen verbanden sich mit den Protonen zu Wasserstoff – und gaben damit den Photonen den Weg frei. Diese Photonen konnten sich ungestört bewegen, ohne ständig mit irgendwelchen anderen Teilchen zusammenzust oßen: Das Universum wurde durchsichtig.
Wobei „kühl“ hier immer noch um die 3000 Grad Kelvin bedeuten. (In Celsius sind’s 273 Grad und ein paar Nachkommastellen weniger…)
Aber: Mit abnehmendem Strahlungsdruck wird auch für die baryonische Materie die Gravitation zur immer wesentlicheren Kraft. Noch einmal: Masse zieht Masse an. Also fließen Materieströme zu den Massezentren, die die dunkle Materie in den ersten 380.000 Jahren ausgebildet hat. Erst so kommt genügend Masse für Sterne, Galaxien und, etwa 9,2 Milliarden Jahre später, einen Zwergstern mit einem kleinen Planeten zusammen, den zweibeinige Lebenwesen noch weitere 4.567 Milliarden Jahre später einmal „Erde“ nennen werden…

Perspektivwechsel

Auch bei Bach eine Art des sich dehnenden Schwingungsmuster: Bereiche über dem ostinaten Pedalmotiv wecheln mit den immer länger werdenden Bereichen ohne Ostinato. Die Ostinati gliedern das Stück, ähnlich dem Schwingungsmuster der Baryonischen Akkustischen Oszillation. Warum?

Nun…, bevor wir das beantworten und alles zu einem Gesamtbild zusammenfügen, schlage ich eine Pause vor. Was denkt Ihr? Wenn Ihr mögt, hören wir uns im letzten Teil dieser langen Epsiode wieder. Bis dahin Adé, bleibt gesund und genießt das Leben!