Seite wählen

Bild-Collage oben: Richard Wagner (links oben), Thomas Mann (links unten), Vera Rubin (Mitte), Georges Lemaitre (rechts oben), Johann Sebastian Bach (rechts unten).

Bildquellen: Wikipedia. Graphische Gestaltung: Thomas Jung

Ein Puzzle aus Bach und moderner Kosmologie: Teil 1

von Thomas Jung | Dreistromgeschichten

Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen? Wir sind im Anfang. Hier im Anfang von Thomas Manns großer Joseph-Tetralogie. Die ersten Worte der „Höllenfahrt“, des Vorspiels, des ersten Kapitels des Mann’schen Romankomplexes.

Erster Teil dieser Dreistromgeschichte

Im Anfang. Der Urgrund. Richard Wagners Urklang. Die andere große Tetralogie, der Ring des Nibelungen. Ihr hört das Vorspiel. Aus der Tiefe des Orchestergrabens vier Minuten Es-Dur. Das „OM“, der Sound, aus dem eine ganze Welt entsteht. Die Welt der Götter, der Menschen, der Verträge, die Welt der Schuld, der Verstrickungen, die Welt der Macht, der Machtlosigkeit.

Was ist Kirchenmusik? Aus dieser einfachen Frage ist eine Reihe mehrerer Episoden geworden. Jetzt stehen wir am Anfang der Welt. Was war im Anfang? Das extrem instabile „Atom primitive“ und dessen explosionsartiger Zerfall im Urknall.

Diese Grundideen kann die moderne Kosmologie begründen, seit sie von dem belgischen Theologen und Astrophysiker Georges Lemâitre 1931 erstmals öffentlich formuliert worden sind.

Im Anfang. Der Urgrund. Gott. In der letzten Folge sind wir der Hebräischen Sprache in ihre Wurzeln gefolgt. Wir haben in den Verben „dabar“ und „amar“ Spuren eines Gottes der sprachlichen, der akkustischen Aspekte gefunden. Eine Gotteseinheit, die den Kosmos singend offenbart – und, im jüdischen Denken, viel später als der Gott der Geschichte sein Volk begleiten wird.

Im Anfang. Das Tohuwabohu, das Chaos, über dem der Geist der Schöpfergottheit schwebt. „Wir glauben all‘ an einen Gott, Schöpfer Himmels und der Erden“, singt Martin Luther 1524, um sofort weiter zu dichten: „der sich zum Vater geben hat, dass wir seine Kinder werden.“

Herzlich Willkommen in dieser Dreistromgeschichte!

Ihr ahnt es vielleicht hier schon? In dieser Folge steht uns ein etwas steilerer Anstieg bevor. Das Ganze ist ein Puzzle. Unser fertiges Bild wird eine Collage sein, die Zusammenschau eines Konzeptes der modernen Kosmologie einerseits und dem Design einer späten Choralbearbeitung Johann Sebastian Bachs andererseits. Konkret soll es um Bachs Bearbeitung „Wir glauben all‘ an einen Gott“, BWV 680, gehen.

Im diesem ersten Teil der Episode klären wir die Vokabeln. Wir benötigen ein paar Fachbegriffe aus der Musik und aus der Physik. Wir schauen uns ein paar Hintergründe an und legen den Rahmen für unser Puzzle.

Im zweiten Teil nutzen wir unser neu erworbenes Vokabular, um daraus unsere Puzzlesteine zu bauen. In wechselnden Perspektiven untersuchen wir zum einen die Konzeption hinter der Bachschen Choralbearbeitung und zum anderen die hinter einer astrophysikalischen Vorstellung des allerfrühesten Kosmos. Der kleine Fjodor, der sich mit seinen Kinderweisheiten immer wieder mal in den Podcast verirrt, wird uns helfen, zwischen den sehr unterschiedlichen Perspektiven mental „umzuschalten“.

Im dritten Teil schließlich bauen wir aus unseren Puzzlesteinen das Gesamtbild. Wir setzen Bachs musikalischen Bauplan in Bezug zum Bauplan des frühen Universum, so wie ihn die Computersimulationen der Kosmologen nahelegen.

Am Ende unseres Aufstiegs, auf unserem mentalen Plateau, werden wir gelernt haben, wie Komologen und Quantenphysiker erklären, warum es uns überhaupt gibt. Wir werden verstehen, auf welcher Basis unsere Computersimulationen die Strukturen des frühen Universums erklären und wie sie zu dem passen, was wir tatsächlich beobachten.
Parallel werden wir uns auf ungewohnten Wegen dem Denken des späten Bach genähert haben. Wir werden fragen, wie Bach in seiner Sprache, der Sprache der Musik, mit dem theologischen Anfang der Welt umgeht und finden, dass er auf völlig anderem Weg vergleichbare Strukturen niederschreibt wie die, die die moderne Physik für den Beginn des Kosmos vorschlägt.

Im Anfang also. Wie bei Wagner, so auch im Christentum: Gott verbindet sich mit seiner Schöpfung. In der Musik gilt die Oktave zuweilen als Symbol für das Ganze. Sieben Töne der Skala sind unterschiedlich, der achte gleicht dem ersten – auf einer höheren Stufe. Die Frau singt eine gegebene Melodie eine Oktav höher als der Mann – und dennoch nehmen wir die beiden Stimmen als eine einzige wahr. Physikalisch entsteht die Oktav, indem wir die Schwingung eines Tons, seine Frequenz, verdoppeln. Der Kammerton A mit seinen 440 Hertz wird, auf 880 Hertz verdoppelt, zu seinem höheren Zwilling.

Im Anfang durchschreitet Gott das Ganze. Bei Wagner aus dem tiefen Ur-Ton heraus, immer weitere Oktaven, immer weitere Instrumente wachsen hervor, im strahlenden Es-Dur.

Bei Bach: Nüchterner. Ein tiefes d zunächst, aus dem heraus eine melodische Linie zum hohen d, zur Oktave emporwächst, dabei alle anderen Töne der Moll-Tonleiter einbezieht.

Aus dem Griechischen kommt das Wort „Diapason“. „Dia“…, es bedeutet „hindurch“. Das Dia…, bei uns ist es immer das Bild, durch das das Licht hindurchtreten muss, um erkennbar zu werden. In der Musik ist das Diapason das durch das alle Töne Hindurch-Schreitende.

Dann, und Bach setzt fort: Der Abstieg. Aus der Höhe geht es stufenweise zurück, in die Tiefe. Gott verlässt die Höhe wieder, erniedrigt sich selbst. Ein sechs-taktiges Symbol in Tönen: Drei aufsteigende Takte: Der Schöpfergott, der durch seinen Kosmos schreitet. Drei absteigende Takte: Der Gott, der als Mensch hinabsteigt.

Ist diese christliche Lesart zulässig? Töne ohne Worte…, sie können alles bedeuten?
Nun…, wir HABEN Worte. Es sind dieselben Worte Luthers, die wir bereits kennen. „Wir glauben all‘ an einen Gott, Schöpfer Himmels und der Erden.“ Es ist einer der Katechismus-Choräle, also der kirchlichen Lehr-Choräle, die der Reformator aus einer lateinischen Vorlage nachgedichtet hat. Bach hat einige von ihnen in dem sogenannten „Dritten Theil der Clavierübung“ bearbeitet. Hinter diesem „Dritten Theil“ verbirgt sich wieder eine eigene Welt. Darüber mache ich gelegentlich ein oder zwei eigene Folgen. Hier geht es ausschließlich um die Choralbearbeitung über “ Wir glauben all‘ an einen Gott“. Im Bachwerke-Verzeichnis Wolfgang Schmieders ist das Stück unter der Nummer 680 gelistet.

Diese aufsteigende und wieder in die Tiefe sinkende Linie ist innerhalb der Bachschen Bearbeitung ein zentrales Element. Es kehrt sechs Mal wieder, in verschiedenen Moll und Dur-Tonarten, ansonsten aber unverändert. Musiker nennen das „Ostinato“. Ostinat…,also…, hartnäckig. Wiederkehrend, sich wiederholend. Das können Rhythmen sein. Oder aber, wie hier, ein ostinates Motiv. Arbeitshypothetisch können wir es im vorliegenden Zusammenhang Gott zuordnen. Ein ostinates Gottes-Motiv.

Perspektivwechsel

Wir gehen in die Astrophysik des frühen Kosmos. Es geht um die „Baryonische akkustische Oszillation“. Diese was? Ok – noch einmal. Es geht um die „Baryonische akkustische Oszillation“. Die hatte damals, in den ersten 380.000 Jahren nach dem Urknall, für die Verteilung der Materie gesorgt.
Damals. Ja, ja. Die gute alte Zeit. Vor etwa 13,7 Milliarden Jahren. Wir sollten unsere Maßstäbe kurz neu skalieren…
Gut…, zuerst eine – tadaa…, Übersetzung: „Baryos“, einmal mehr griechisch. Es bedeutet „schwer“. In der subatomaren Physik sind mit den Baryonen die schweren Materieteilchen gemeint, also Protonen und Neutronen. Es gibt noch ein paar andere, die allerdings instabil sind. Der Einfachheit halber: Baryonen sind die Dinger, aus denen wir und alles, was wir anpacken könne, gemacht sind.
Wie…., was an einem Proton schwer sein soll? Naja…, Ihr dürft’s nicht mit Euch vergleichen. Aber gegen ein Elektron hat so’n Proton durchaus Format…
Oszillationen…, das sind Schwingungen. Und Akkustik…, genau…, die Lehre vom Schall und seiner Ausbreitung. Was aber hat Akkustik mit einem Prozess am Beginn des Universums zu tun? Im engen Sinn nichts! Bereits hier der Hinweis: Um hörbaren Schall wird es im Folgenden in der Tat nicht gehen!
Also…, bereit? Wir beginnen etwa 10^-32 Sekunden nach dem Urknall. Das ist eine Null, dann ein Komma, dann 31 weitere Nullen und die eins. Ich weiß, ich weiß…, aber das mit den Maßstäben erwähnte ich schon…
Zu diesem Zeitpunkt endet die sogenannte „kosmische Inflation“: Astronomen verstehen darunter einen Moment der überproportionalen, explosiven Ausdehnung des gesamten, frühesten Universums.
So absurd es klingt: Astrophysiker können sich um weitere Zehnerpotenzen näher an den Urknall heran rechnen. Um unsere Baryonischen Oszillation nachzuvollziehen, brauchen wir aber lediglich eine Umgebung aus hochenergetischer Strahlung. Deren Herkunft zu erklären, führt an dieser Stelle zu weit. Hier mag die Information ausreichen, dass eine solche Strahlungsumgebung ab ca. 10^-32 Sekunden nach dem Urknall vorliegt.

Für die von Euch, die solche Dinge genauso faszinieren wie mich, verlinke ich auf www.dreistimmig.com den Astro-Blog von Florian Freistätter. Der ist Astrophysiker und erklärt die Sachen superverständlich. Oder schaut Euch auf Youtube bei Josef Gassner und Harald Lesch und deren Videoblog „Sterne, Weltall und das Leben“ um…

Perspektivwechsel

Das Gottes-Ostinato. Aber was hat es mit Luthers Choral zu tun – um den es Bach doch offensichtlich geht?
Erstmal – nichts. Nun…, ist Musik aber „multitasking-fähig“. In der Musik können mehrere Dinge zugleich passieren. Und in der Tat passiert zunächst etwas anderes. Bach beginnt mit Luthers Choralbeginn:

„Wir glauben“. Das tun wir, scheint Bach zu erzählen, nicht souverän. Wir „plumpsen“ in den Glauben hinein, wenn Bach den Beginn von Luthers Glaubenschoral auf unbetonter Zählzeit beginnt und das Motiv mit mehreren Synkopen fortführt. Synkopen…, das sind rhythmische Verschiebungen. Bach differenziert. Wir glauben zwar an den einen Gott, tun das aber stolpernd, immer wieder über die Synkopen fallend. 

Der, an den wir glauben, der hingegen ist immer gleich. Egal, was auch immer im Gewusel unseres Lebens geschieht, das Fundament, das Gottes-Ostinato steht immer gleich. Insgesamt sechs Mal erklingt es in den tiefen Pedalregistern.
Die Doppelbödigkeit großer Kirchenmusik. „Wir glauben all‘ an einen Gott.“ Aus einer einzelnen Stimme entwickelt sich alles. Der Einzelne glaubt. Der Grundton, die Quinte, hin zum Dreiklang, alles abgeleitet aus Luthers Choralvorlage. Sehr schnell die zweite Stimme. Eine Fuge? Über Fugen mache ich später eigene Folgen…, hier nur die Info: Nein, es ist keine Fuge? Viel zu früh bricht der Bass mit dem Gottes-Ostinato herein.
Innerhalb einer Fuge hätte dieses Ostinato nichts verloren. Hier erweitert es die Form um…, ja – um was? Bereits im dritten Takt sprengt Bach seine musikalische Architektur. Sein Noten-Universum wächst aus dem Nichts. Ein knapper Beginn aus zwei sich imitierenden Stimmen, die harmonisch plötzlich an dieses merkwürdig deplatzierte Ostinatomotiv gebunden sind. Was will Bach? Seine Form expandiert in…, nun…, in etwas, was auch ein Kenner des Bachschen Werkes an dieser Stelle nicht vorhersagen könnte.

Erstes Fazit

Wir haben jetzt die Bausteine für den zweiten Teil unseres Podcasts beisammen. Zu unserer begrifflichen Werkzeugkiste gehören Diapason und Oktav und deren Symbolik, außerdem das „Ostinato“ und Luthers Katechismus-Choral „Wir glauben all an einen Gott“.
Zu unserer physikalischen Werkzeugkiste gehören die „schweren Teilchen“, also die Baryonen, die kosmische Inflation vor etwa 13,7 Milliarden Jahren, sowie ein sich rasant ausdehnendes Universum aus hochenergetischer, superheißer Strahlung, in der nach Einsteins Äquaivalenzprinzip aus der Speziellen Relativitätstheorie Materieteilchen aus Energie entstehen, die ihrerseits sofort wieder in Energie zerstrahlen.

Wir haben demnach zwei Perspektiven:
Einerseits versuchen wir, Bach über die Schulter zu schauen, wenn er seine Choralbearbeitung entwirft. Anderseits schauen wir der Quantenmechanik und den Grundkräften der Physik zu, wie diese die Struktur des frühesten Universums entwerfen.
Hier wie dort geht es um die Schöpfung.
Hier wie dort geht es um etwas, dem wir uns mit akkustischen Gesetzen annähern können: Eine Idee, die im Zusammenhang mit einem Musikstück deutlich weniger überraschend scheint als im Kontext der Quantenmechanik im frühen Weltall.
Aber erstmal eine Pause. Falls diese Pause länger dauern sollte, wie immer der Gruß: Bleibt gesund und genießt das Leben.