Folge 2: Wie alt ist die Kirchenmusik
Eine Bemerkung vorweg: Das Konzept für diese Folge ändere ich gerade zum dritten Mal. Wenn wir jetzt zusammen auf Spurensuche gehen, zurück durch die Zeiten, ist die Versuchung groß, jede einzelne Station zumindest ein bißchen erklären zu wollen. Das hab‘ ich versucht. Und wisst Ihr was…, eben hab‘ ich große Abschnitte wieder gelöscht. Ich bin nicht einmal über die Gegenwart hinaushausgekommen. „Gegenwart“, das bedeutet für mich in unserem Kontext das 20. und 21. Jahrhundert.
Mit „moderner Kirchenmusik“ verbinden viele Menschen entweder die sogenannten „Neuen geistlichen Lieder“, Gemeindelieder also, die, oft mit den Mitteln der Popmusik und des Schlagers, geistliche Inhalte transportieren. In Familiengottesdiensten sind sie beliebt, die Freien Evangelischen Gemeinden verwenden sie überwiegend.
Oder die Leute denken an Gospelsongs – und meinen damit die Spirituals gleich mit, obwohl die beiden Dinge musikgeschichtlich zunächst gar nichts miteinander zu tun haben. Ach…, ich merke…, dass ich schon wieder dabei bin, ein eigenes Thema zu eröffnen.
Naja…, allein über die Gospelszene gibt es genug zu erzählen, um mehrere Podcast-Episoden zu füllen. Der US-Amerikaner und Grammy-Gewinner Merwyn Warren hat Teile von Händels „Messiah“ zu einem, finde ich, cool gemachten Gospel-Oratorium umgearbeitet. Unter dem Albumtitel „Joyful Celebrations“ hat er das Stück eingespielt. Das Album lässt sich – auch – als eine Art Enzyklopädie der Stilarten hören – vom Jazz zum Hip-Hop ist alles dabei.
Aber die Kirchenmusik ist, auch noch im 20. Jahrhundert, viel, viel umfassender. Was ist mit einem Duke Ellington und seinen „Sacred Concertos“? Was ist mit John Coltranes „A Love supreme“? Ich hoffe, ich verstoße nicht gegen das Urheberrecht, wenn ich die ersten zehn Sekunden des Beginns im Hintergrund abspiele…
Was ist mit Leonard Bernstein oder Krzysztof Penderecky? Mit Benjamin Britten? Mit Olivier Messiaen? Im 20. Jahrhundert finden die beiden Weltkriege statt. Die Musik wird auf diese Katastrophen reagieren. Welche Folgen hat die Auflösung der Tonalität – auch für die Kirchenmusik?
Oder ein ganz anders Terrain: Was mit dem großen Bereich von Kindermusicals, der in den letzten Jahrzehnten entstanden ist?
Liebe Einwohnerinnen und Einwohner des Dreistromlandes…, zu Beginn des Podcasts hier in Folge 2 möchte ich einen Überblick über die Vielfalt und die zweitlichen Dimensionen unseres Reiches geben. Aber dann müssen wir diese vielen Fragen für spätere Folgen aufsparen…
Stefan Zweig, der österreichische Schriftsteller und Biograph, Verfasser der „Schachnovelle“, im fernen Petropolis unglücklich in den Selbstmord getrieben durch den Weltenbrand, den die nationalsozialistische Gewaltdiktatur über Europa gebracht hatte, jener Stefan Zweig hat an einer Stelle einmal die Historie Amerikas mit der Chinas verglichen.
Der junge Stefan Zweig, um 1900. Quelle: Wikipedia
Leider kann ich nicht mehr sagen, wo. Aber Zweigs Bild ist mir in Erinnerung geblieben: Die Geschichte Nordamerikas, so notierte er sinngemäß, sei im Vergleich zu der des chinesischen Reiches wie ein Kontoauszug in der Mittagssonne. Alle Ereignisse der amerikanischen Historie lägen vollkommen klar auf der Hand. Die chinesische Geschichte hingegen erschiene einem Interessierten stets wie ein vom Alter vergilbtes Pergament: Egal in welchem Jahrhundert man darauf schaue, egal, wie weit zurück einen die Geschichtsbücher führten: Stets tauchten immer ältere Nebelbänke vergangener Jahrhunderte den Blick in Wolkenschleier und Dunst.
Angenommen, Stefan Zweig hätte über die Kirchenmusik geschrieben, er hätte es ebenso oder doch sehr ähnlich formulieren können?
Selbst im engeren Sinne, wenn Kirchenmusik als Musik der Gottesdienste verstanden wird, liegen Jahrhunderte vor uns. Für mich ist Kirchenmusik aber auch immer Sakrale Musik – und als solche geht sie über die reine Liturgien hinaus. Wer übrigens mit dem Begriff „Liturgie“ nichts anfangen kann: In Folge eins habe ich das Wort übersetzt und mehr dazu erzählt.
Lösen wir unseren Blick von der Gegenwart und schauen weiter zurück in die Zeiten. Wie viel weiter? Die instrumentalen Großformen, also Symphonien und große Kammermusiken, sind Errungenschaften des 19. Jahrhunderts. Ihre ersten Blüten entwickeln sich im späten 18. Jahrhundert. Die Instrumentalkonzerte sind bereits in der Barockzeit eine zentrale Gattung. Gehen wir weiter zurück, stoßen wir gegen 1580 in Italien auf die Anfänge des Musiktheaters, also auf die Oper und ihre geistliche Schwester, das Oratorium.
Die mehrstimmige Kirchenmusik ist damals in Form von Motetten und Messvertonungen allgegenwärtig. Gegen 1600 beginnt sie, die Mittel der Oper aufzunehmen, kombiniert sie mit ihren eigenen Ausdrucksformen – und befruchtet ihrerseits wiederum die säkulare Musik. Nur…, von einem Beginn der Kirchenmusik ist weit und breit keine Spur.
Zumindest die Evangelische Kirchenmusik ist datierbar. Die geht auf Martin Luther zurück und ist demnach gut 500 Jahre alt. Oder?
Sicher: Ohne Luther keinen Protestantismus und keine protestantische Kirchenmusik – die beim Reformator übrigens durchaus auch politische Funktion hat. Politische Choräle…, ein Gedanke, der für uns kaum mehr nachvollziehbar scheint.
Wenn Luther allerdings vom „Papst und Türken Mord“ dichtet, die „Jesum Christum“ von seinem Thron stürzen wollen, braucht man nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, wie in der aufgeheizten Atmosphäre des 16. Jahrhundert solche Kampflieder die Leute ideologisch gegeneinander aufladen.
Im aktuellen Evangelischen Gesangbuch erscheint der entsprechende Lutherische Urtext in der Tat „entschärft“. Die Melodie hab‘ ich Euch für diese Folge kurz dreistimmig ausgesetzt – sie steht im Gesangbuch unter der Nummer 193 mit dem allgemeiner gehaltenen Text: „Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort und steu’re deiner Feinde Mord“.
Ob das besser ist als der Mord von Papst und Türken? In diesem Zusammenhang eine persönliche Bemerkung: Ich gebe zu, dass ich ein gespaltenes Verhältnis zu Luther habe. Das gilt, obwohl ich als evangelischer Kirchenmusiker arbeite und das gilt, obwohl mein gesamter Berufsstand auf Luther und Melanchthon zurückgeht. Trotzdem: Luthers Rolle in den Bauernkriegen scheint mir ebenso zweifelhaft wie seine Äußerungen zu Frauen. Und von seinen Ausfällen gegenüber dem Judentum distanziert sich – endlich, kann ich nur sagen – selbst die Evangelische Landeskirche. Margot Kässmann beispielsweise räumt im Jahr des Reformationsjubliäums 2017 ihre Schwierigkeiten mit Luthers entsprechenden Hassschriften ein. Im Skript zu dieser Episode verlinke ich Euch das Interview.
Derselbe Luther hat andererseits die Evangelien übersetzt, später die gesamte Bibel. Für mich bleibt es nicht nachvollziehbar, wie dieselbe Person das Jesuanische Liebesgebot predigen kann, das Volk jedoch, dessen Angehöriger Jesus von Nazareth doch sein Leben lang war, sprachgewaltig verflucht. Dass sich der Bluthusten des Antisemitismus durch die Jahrhunderte der Kulturgeschichte schleppt, dass Luther demnach in bester Gesinnungsgesellschaft ist, macht es nicht besser und entlastet keinen der Autoren.
Trotz, besser vielleicht jenseits, Luthers Irrtümer bleiben seine Verdienste in Bezug auf deutsche Sprache und Literatur. Und auch in Bezug auf die Musikgeschichte ist der Reformator ein seltener Glücksfall. Uns heute scheint das selbstverständlich. Aber stellt euch vor, ein (Ulrich) Zwingli oder ein (Johannes) Calvin wäre an der Stelle Luthers gewesen. Es gäbe es keine Evangelische Kirchenmusik von Rang. Warum? Naja…, Zwingli, obgleich selbst musikalisch, hatte Musik dennoch aus der Liturgie verbannt. „Sie lenkt vom Glauben ab und vom unverfälschten Bibelwort.“
Tjach. Amen. 1528 ließ er die Orgel aus dem Züricher Großmünster entfernen – um ein Jahr später paradoxerweise in derselben Stadt die erste Musikschule zu gründen.
Calvins Genfer „Konsistorium“ führte wenige Jahre nach Zwinglis Tod dessen Ansätze fort. In der Liturgie waren einfache Psalmlieder zugelassen – der Genfer Psalter entstand in der Zeit. Darüber hinaus war jede kunstvolle Musik verpönt, Tanz verboten, Bilder wurden aus den Kirchen entfernt, Literatur war unwillkommen.
Erst im Laufe des 19. Jahrhundert erholt sich das Kulturschaffen in der Schweiz allmählich.
Also…, Luther am Beginn? Ja, aber!… Denn die Protestanten schöpfen selbstverständlich aus älteren Quellen. Hier zum Beispiel: Ein Lied wie „Nun komm, der Heiden Heiland“ war bereits mehr als 1000 Jahre alt, als Luther es als Übersetzung und Nachdichtung niederschrieb. Die lateinische Vorlage „Veni redemptor gentium“ schuf Ambrosius von Mailand im 4. Jahrhundert.
Überhaupt ist die Evangelische Kirchenmusik zig-fach verwurzelt in der Römisch-Katholischen Kirche. Sie baut selbstverständlich auf deren Melodienbestand auf, auf den liturgischen Formen, auf dem katholischen Kirchenjahr. Selbst die Notenschrift, deren Grundlagen Guido von Arrezo nach der ersten Jahrtausendwende geschaffen hat, selbst die ist integraler Teil der Kirchenmusikentwicklung.
Also ist die Kirchenmusik so alt wie die Katholische Kirche? Aber…, wie alt ist die? So alt, wie das Konzil von Nicäa, dem die römische Kirche ihr Glaubensbekenntnis zu verdanken hat?
Besagtes Konzil war im Jahre 325. Die ersten Kirchenväter lebten bereits im 2. Jahrhundert – und die katholische Kirche führt sich zurück auf den Apostel Petrus, den sie als ersten Papst anerkennt. Warum eigentlich?
Als Beleg wird auf Matthäus 16 verwiesen, dort auf jenes Wortspiel Jesu, dass dieser seine Kirche auf den Felsen Petrus bauen würde – wobei das griechische „Petros“ in deutscher Übersetzung eben „Fels“ bedeutet. Petrus – der Fels, als „Petros“, der Fels der Kirche.
Was hat das mit dem Alter der Kirchenmusik zu tun? Nun…, wenn wir unter Kirchenmusik die Musik der Römischen Kirche verstehen, denn wäre diese ebenso alt wie die Gemeinden der Apostelgeschichte, denen Petrus vorstand.
Wissen wir etwas über die Musik, die dort gemacht wurde? Petrus selbst war ursprünglich Fischer und hat nichts Schriftliches hinterlassen (bevor jemand auf das Neue Testament verweist: Die historische Bibelforschung geht davon aus, dass die beiden Petrusbriefe dort anderen Federn entstammen).
Paulus immerhin erwähnt in seinen Briefen die Musik mehrfach. Im Brief an die Philipper (2. Kapitel, ab Vers 5) zitiert er einen frühen Christushymnus, im Brief an die Epheser verweist er im 5. Kapitel darauf, „Psalmen und Loblieder“ zu singen.
Mit den Psalmen verweisen die paulinischen Texte zurück in’s Alte Testament. Sicher ist: Das Christentum hat nicht alles neu erfunden. Selbst, wenn man in Eph. 5 Hinweise auf Neudichtungen des ersten Jahrhunderts lesen mag, würden auch diese neuen Texte mit Kenntnis der tradierten Formen entstanden sein.
Es gibt unmittelbare Hinweise dafür, dass die Wurzeln der christlichen Sakralmusik viel weiter zurückreichen, als man sich es gemeinhin vorstellt.
Im Markusevangelium 14, 26 steht am Beginn der Passionsgeschichte die unscheinbare Bemerkung, Jesus und seine Freunde hätten den, wie Luther es übersetzt, „Lobgesang gesprochen“.
Im griechischen Original steht an dieser Stelle das Wort „Hymnesanctes“, also die „Heiligen Lobgesänge“. Diese wiederum verweisen auf einen definierten Teil der jüdischen Pessach-Liturgie, nämlich die sogenannten Hallel-Psalmen 113 bis 118. Bereits Jesus greift demnach auf eine liturgische Tradition seiner eigenen Religion, des Judentums, zurück – eine Tradition, die Jahrhunderte vor dem Erscheinen Jesu vorhanden ist, deren Texte aber bis heute zum Kernbestand der christlichen Kirchenmusik gehören.
Und: Deren Texte bereits in der alten jüdischen Überlieferung nicht gesprochen, sondern eben gesungen wurden. Indirekt steht also in den Evangelien, dass bereits Jesus und seine Jünger das betrieben haben, was wir heute unter „Kirchenmusik“ verbuchen…
Die Frage nach dem Alter der Kirchenmusik führt von der Zeit Jesu aus weiter zurück in die Vergangenheit. In der Tat lässt sich die Bibel als eine orignelle Art der Musikgeschichte lesen. Wenn wir das tun, müssen wir weiter zurück. Aber das erzähle ich in der nächsten Dreistromgeschichte.
Bildquelle: Stock-Media Library