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Folge 10: Aus dem Totenreich zu Weihnachten

von Thomas Jung

In der letzten Episode habe von den Grundlagen der Liturgie erzählt – die zugleich die Grundlagen der Kirchenmusik sind.

Noch einmal zurück in unser Abendland: Ich hatte die 1560-er Jahre erwähnt, das Tridentinum, das große Konzil. Geschichtlicher Hintergrund sind Unterschiede im Menschenbild der Reformation und dem der Katholischen Kirche. Für uns heutigen sind es Details, für die Kirche der Renaissance waren die Antworten existentiell.

Im Folgenden möchte ich davon erzählen, auch um den Preis, dass unser Fokus mehr auf der Theologie als auf der Kirchenmusik liegen muss. Aber ohne diesen Hintergrund bleiben die großen Requiem-Vertonungen in wesentlichen Teilen unverständlich. Auf tieferer Ebene gilt das vielleicht für die europäischen Sakralmusiken im Ganzen? Diese Episode baut auf der letzten Folge 9 auf. Wem im Weiteren einzelne Sachbegriffe fremd sind, möge dort bitte noch einmal nachhören.

Der Mensch ist aus eigener Kraft nichts, sagt Luther. Er gießt es in seine „Solae“-Formeln: Sola Scriptura, Sola Gratia, Sola Fide, Solus Christus, Soli Deo Gloria – im Deutschen würden wir sagen: Allein durch die Schrift, allein durch die Gnade, den Glauben, Christus, und alles zur höheren Ehre Gottes.

Wenn der Mensch, so Luther, etwas zuwege bringt, dann tut er das aus dem Glauben heraus. Der Reformator verweist auf den neutestamentlichen Brief an die Römer, in dem Paulus im dritten Kapitel „dafür hält, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.“ Dass aus einem solchem Glauben gute Werke hervorgehen, ist für Luther selbstverständlich. Aber die Rechtfertigung erfolgt eben nicht aus dem, was der Mensch getan hat, sondern aus dem Glauben. Die Erlösung schließlich ist ein reines Geschenk Gottes, auf das der Mensch gar keinen Einfluss hat – Solus Gratia (allein durch die Gnade).

Die katholische Kirche hält den reformatorischen Kirchen 40 Jahre später den Jakobusbrief im Neuen Testament entgegen. Dort steht im 2. Kapitel, dass der Glaube ohne Werke tot sei in sich selbst (wer’s nachschlagen mag: Vers 17).

Wenn das so ist, so die römischen Bischöfe, können die Menschen durch entsprechende Werke etwas tun für ihr Seelenheil. Versäumt der Mensch diese Verantwortung, muss er sich dem Inferno des „Dies irae“ verantworten. Übernimmt er hingegen diese ihm ureigene Verantwortung, vollbringt er Werke im Sinne der kirchlich definierten „guten Taten“, dann gehört er zu den Gerechten, von denen das Graduale erzählt. An seiner Erlösung kann der Mensch auf diese Weise mitwirken. Gott, so die katholische Kirche, schenkt dem Menschen eine Art „Erlösungsvorschuss“, den der Mensch wiederum mit seinem Glauben einlösen kann. Die Kirche, also…, die katholische Kirche, kann jeder Seele bereits im irdischen Leben auf diesem Weg helfen.

Den meisten von uns Heutigen ist die Bilderwelt der Requiem-Texte vermutlich zutiefst fremd. Die Menschen des Mittelalters waren in einer Weise von einer jenseitig gefärbten Spiritualität geprägt, die wir uns erst vergegenwärtigen müssen, wenn wir die Szenen von Weltuntergang und physischer Vernichtung, mit der uns Liturgie der Totenmesse konfrontiert, verstehen wollen. Der Mensch, der als Verantwortlicher seiner eigenen Erlösung, unter Anleitung der Kirche, dem „Tag des Zornes und der Tränen“ während des jüngsten Gerichts entgehen kann: Es ist die offizielle Antwort Roms auf Luther „Solae“-Sätze.

Die katholische Kirche hatte sich für diese Antwort eine Menschengeneration Zeit gelassen, bis sie offiziell und auf konziliarer Ebene auf Luthers 95 Thesen und, in der Folge, auf die reformatorischen Lehren reagierte. Genau dies ist der Hintergrund des oben erwähnten Trienter Konzils. Der Druck auf die römischen Kirche wurde zu groß – die Reaktion jedoch kam letztlich viel zu spät. Immer größere Bevölkerungsgruppen hatten sich den reformatorischen Kirchen zugewandt – und Luthers „Solae’s“ hebelten die Macht der Katholischen Kirche aus.

Wie? Nun…, bereits das „Solus Christus“ ist ein machtpolitischer Vorschlaghammer: Bringt allein Christus Erlösung und Seelenheil, tut es kein Staat, keine Institution – und eben auch keine Kirche. Auch keine Römische.

Der Mensch selbst, so Luther, auch nicht. Der Mensch kann nur glauben. Er ist gerecht und sündig zugleich – Simul iustus et peccator. Egal, was er tut, er bleibt, als Mensch, vor Gott sündig, ist aber durch Gottes Gnade zugleich gerechtfertigt.

In der Lebensbilanz des einzelnen Menschen klafft eine Lücke zwischen dem, was er im Leben gemacht hat und dem, was er den Gesetzen Gottes zufolge hätte tun sollen. Gott muss hier, nach der Vorstellung des Thomas von Celano, im Inferno des letzten Gerichts den Ausgleich schaffen.

Nein, sagt Luther: Gott kann auch – und wird – Gnade walten lassen. Das Richterwort Gottes ist nicht das letzte Wort Gottes.

Die Katholische Kirche widerspricht hier und formuliert das im Requiem: Die indivduellen Taten des irdischen Lebens spielen eine Rolle. Die sind lückenlos aufgezeichnet und werden verlesen. Die Rettung durch Jesus wird zusätzlich erbeten, um den Fundus der – hoffentlich vorhandenen – guten Werke aufzuwerten.

Es ist eine Art „katholischer Buchhaltung“: Die individual-menschliche Sünde ist gemindert durch Gottes Erlösungsvorschuss, der verbleibende Minus-Bestand wird aufgestockt von der Gnade Jesu. Im Leben kann der Minus-Bestand durch die Sünde nur gemildert werden durch das Befolgen der kirchlichen Lehren. Je kleiner der „Berg der Sünden“, desto gerechter die Seele, desto wahrscheinlicher die Erlösung.

Luther selbst hatte mit Elan den Ablasshandel bekämpft, der diese Idee bis zum Letzten durchdekliniert hatte: Ein gewisser Johannes Tetzel hatte weltliches Geld für die Kirchenkassen eingesammelt und das offizielle Versprechen gegeben, dass die Sünden der verstorbenen Angehörigen dadurch gemindert und deren Seelen näher an die Erlösung gebracht würden. Bereits zur Zeit des Trienter Konzils war die offizielle katholische Kirche von dieser Lesart abgerückt. Ablasshandel von irgendwelchen Sünden hatte seither keine Rolle mehr gespielt.

Wer weiß: Wäre die römische Amtskirche 25 Jahre vor Beginn des Konzils auf Luthers Idee eingegangen, hätte sie Herrn Tetzel aus Mitteldeutschland abgezogen, dann wäre die Weltgeschichte möglicherweise anders verlaufen. Aber das sind Spekulationen. Wir heutigen, ob katholisch oder nicht, können uns über eine Fülle großer, zum Teil monumentaler Musik freuen, die auf die Liturgie des Requiems zurückgeht.

Anzumerken ist, dass das Requiem in engen Sinn die Totenmesse für eine einzelne Seele ist, mit der diese in die jenseitige Welt geleitet wird – eine Vorstellung, die auch das Tibetische Totenbuch teilt. Da Tod und Sterben zu jeder Zeit vorkommen, ist auch das Requiem nicht zeitlich gebunden. Dennoch haben immerhalb des Kirchenjahres die Totengedächtnisse ihren Platz. Die katholische Kirche denkt vor allem am 1. und 2. November an ihre Verstorbenen, also an Allerheiligen und Allerseelen. Die evangelischen Traditionen kennen den Ewigkeits- oder Totensonntag: Dieser Tag beschließt das Kirchenjahr, ist demnach stets der Sonntag vor dem ersten Advent.

Hier, am Schluss des Kirchenjahres unterscheiden sich die beiden Kirchen, und ich gebe zu, dass mir, auch als Protestant, die katholische Lesart logischer erscheint – logisch hier vor dem Hintergrund des christlichen Weltbildes.

 

Herbst. Quelle: Privat

Warum? Nun: Evangelischerseits endet die Reise durch das Kirchenjahr quasi an den Gräbern, dort also, wo die katholischen Traditionen bereits an den ersten beiden Novembertagen waren – und in den letzten Wochen die Aspekte des Jenseitigen bedenken, bis hin zum Christkönigsfest, das in der römischen Kirche anstelle des Totensonntags begangen wird. Sofern ich mit der kirchlichen Lehre des ewigen Lebens bei Gott etwas anfangen kann oder anfangen will, macht der katholische Kirchenjahresabschluss unter dem Christkönigsfest mehr Sinn, als der traurige Blick der Protestanten über die novemberlichen Grabsteine.

So oder so: Die stillen Gedenken an Tod und Abschied stehen in der Nachbarschaft einer weiteren, emotional völlig anders gefärbten Einkehrzeit: Der des Advents und des beginnenden Weihnachtskreises. In unseren Städten lassen Marketinggeschrei, „Jingle Bells“-Geplärr aus Streaming-Diensten und digitale Weihnachtsmänner, die mit den neuesten Spielekonsolen winken, von Stille nichts übrig.

Aber wer jenseits davon in der frühen Dunkelheit unter Orion, dem großen Wintersternbild auf unserer nördlichen Seite der Erdkugel, durch die Felder, Wälder, entlang eines Flusses spaziert, ohne In-Ear-Ohrplomben, der ahnt noch etwas von dem Zauber, als die Toten ihre ruhige Novemberwelt hinein geöffnet hatten in die stillen Dezemberwochen adventlicher Erwartung vor dem großen Lichtfest, am dunkelsten Punkt des Jahres.

Musik im Audiopodcast

Verdi, Requiem

Künstlerseite Orchestre national de France (orchestra)
Igor Markevitch (conductor)
Verlagsinfo Paris: Radiodiffusion-télévision française, 1959.
Reissue Schattdorf: Gagnaux Collection
Urheberrecht
Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 4.0
Anmerkungen Recorded 1959, Mai 7, Théâtre des Champs-Elysées, Paris

 

Johann Sebastian Bach: „Nun komm, der Heiden Heiland“, BWV 659

Choralbearbeitung für Orgel – hier in eigener Einspielung an der Schuke-Orgel der Kreuzkirche in Wesseling.