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Das wunderschöne Portait Achsahs oben ist eine Schöpfung von Trisha Shetty. Ganz herzlichen Dank! Die Datei liegt auf Alchetron.

Zurück in die Mythologie und darüber hinaus...

von Thomas Jung | Dreistromgeschichten

Achsah jubelt. Ihr Geliebter ist zurück. Heil. Unversehrt. Im 13. vorchristlichen Jahrhundert beinahe ein Wunder, wenn man bedenkt, von wo er herkommt…

…mitten aus dem Krieg nämlich. Und auch noch als Sieger. Othniel, so heißt ihr Auserwählter, hat für Achsahs Vater Kaleb die Stadt Debis erobert. Dem, der das schafft, hat Kaleb seine Tochter Achsa zur Ehefrau versprochen.
Georg Friedrich Händel hat diese Geschichte in seinem Oratorium „Joshua“ in Musik gesetzt. Wer es hört, wird gegen Ende vielleicht verwundert aufschauen. Othniel, der Held und Eroberer der Handlung, kehrt zurück und wird vom Volk begrüßt mit einem… Adventslied? Doch, doch…, die „Tochter Zion“, eines der beliebtesten Adventslieder, hat Händel ursprünglich für den dritten Akt des „Joshua“ geschrieben. Hier begrüßt das Volk mit der Melodie den siegreichen Heimkehrer. Drei Jahre später verwendet der Komponist dieselbe Melodie übrigens noch einmal, wieder in einem Oratorium, diesmal im „Judas Maccabäus“.

Aber zurück zu Achsah, der jungen Frau, die ihren Geliebten wieder hat. Sie singt vor Freude: Bereits vor dem Kriegszug war sie in Othniel verliebt – er war wohl der Einzige im Volk, der Kalebs Auftrag der Eroberung überhaupt ausführen konnte. Das Versprechen ihres Vaters an das Volk, sie als Siegespreis auszusetzen, kam demnach auch ihrer eigenen Familienplanung entgegen – die aufgrund der Heldentat Othniels gesichert ist. Mit Kalebs väterlichem Segen steht einer Hochzeit nichts mehr im Wege.
Aber hören wir kurz zu, was Achsa da eigentlich singt…

Bei Händel ist es eine Arie. Doro hat sich netterweise bereit erklärt, das Stück mit mir für diese Episode kurz aufzunehmen – Dank Dir, liebe Doro, von hier aus.
Diese Art von Musik hat mit dem Musizieren im Alten Israel selbstverständlich nichts zu tun. Ein wenig habe ich darüber in der letzten Dreistromgeschichte erzählt. Im antiken Judentum gab es zwei grundsätzlich unterschiedliche Arten der sakralen Musik: Die kleinbesetzten Gesänge der Synagoge oder der privaten Andachten und die monumentalen Kultmusiken der Tempelgottesdienste mit hunderten von Instrumentalisten und Sängern.
Nun wurde der erste Tempel gegen 960 v. Chr. erbaut. Josua hingegen war ein Begleiter des Moses. Kaleb übrigens auch, dem Alten Testament zufolge hat der bereits für Mose als Kundschafter gearbeitet. Deren Lebensdaten liegen so weit zurück, dass eine genau Datierung schwierig ist. Vermutlich haben sie um 1500 v. Chr. gelebt.
Wissen wir dennoch etwas über das, was damals musiziert wurde? Nun…, wenig. Über das „Wie“ können wir nichts sagen. Aber wir haben Lieder aus der Zeit. Dazu müssen wir wieder einmal übersetzen…, vermutlich hab‘ noch nie so viel übersetzt wie jetzt, beim Dreistromgeschichten-Schreiben.

Die Bibel verfügt über zwei Liederbücher. Eines kennt ihr alle: Das Buch der Psalmen. Das zweite ist das Hohelied. Letzteres ist eine Sammlung von Liebesliedern in poetischen, zuweilen doppeldeutigen Bildern – beispielsweise im vierten Kapitel, wenn die Geliebte als verschlossener Lustgarten mit edlen Früchten besungen wird.
Zuweilen gibt es in den hebräischen Namen Querverbindungen. Unsere junge, singende Achsa zum Beispiel. Ihr Name ist in der Wurzel verwandt mit dem Wort
„Aekhaes“. Das bezeichnet eine Schmuckspange, ein Fusskettchen als modisches Assesoir. Immerhin besingt auch das erste Kapitel des Hoheliedes die „goldenen Kettchen mit silbernen Kügelchen“…
Keine Ahnung, wie viele tausend Gottesdienste ich mittlerweile beorgelt habe…, an keinen einzigen kann ich mich erinnern, in dem es um Verse aus dem Hohelied gegangen wäre. Im Mittelalter und der frühen Neuzeit war das anders – aber davon erzähle ich vielleicht irgendwann mal, wenn es um die christliche Brautmystik geht. Die taucht nämlich in der Kirchenmusik auf, in Chorälen oder zum Beispiel auch in Bach’s Kantate über Nicolais „Wachet auf“-Lied. Darüber hinaus spielt die biblische Liebeslyrik – leider – keine Rolle im gottesdienstlichen Leben. Zumindest nicht in dem, was ich mitbekomme.

Aber es gibt das andere Buch: Das „Sefer tehillim“, im großartigen Deutsch von Martin Buber und Franz Rosenzweig: „Das Buch der Preisungen“. Unsere gängige Bezeichnung „Psalm“ geht auf das griechische Wort „psallein“ zurück, was das Musizieren auf einem Saiteninstrument bezeichnet. In der letzten Folge ist uns in Salomos Tempelorchester das Psalterion begegnet, ein Zupfinstrument.

Außerhalb dieser beiden Liederbücher kennt die Bibel weitere „Psalmen“. Solche Lieder stehen im Alten wie im Neuen Testament. Nur: Die Bezeichnung „Psalm“ ist den Liedern des „Sefer tehillim“, des Buchs der Psalmen vorbehalten. Die Lieder außerhalb dieser Sammlung nennen wir „Cantica“, auf deutsch: Gesänge. Im Neuen Testament gibt es drei berühmte Exemplare solcher Cantica, allesamt aus den Geschichten des Weihnachtskreises, nämlich das „Benedictus“ des Zacharias, das „Nunc Dimittis“ des alten Simeon und, vielleicht am Bekanntesten, das „Magnificat“ der Maria. Alle drei spielen in den monastischen Stundengebeten zentrale Rollen.
Paulus zitiert im 2. Kapitel seines Philipperbriefes einen Christushymnus, also ebenfalls eine Liedform.
Und im Alten Testament? Miriam, die Schwester Aarons und Moses, lässt ihrer Erleichterung über die Rettung ihres Volkes aus der Verfolgung der Ägypter mit Handpauken und Tanz zu jenem großen Lobgesang freien Lauf, der im 2. Buch Mose 15 überliefert ist. Juden nennen es „Schirar Hajam“, das Schilfmeerlied. Auch dies Schilfmeerlied ist ein Canticum – und hier sind wir tatsächlich in der Zeit Achsas, Kalebs und Josuas angelangt.
Die Bibel ist von ihren Anfängen her voller Musik. Die Cantica haben eine ungebrochene Rezeptionsgeschichte durch die Jahrtausende. Und die Psalmen können kaum überschätzt werden. Sie prägen die jüdische und unsere Kultur bis heute. Unsere Musikgeschichte wäre ohne den Bestand der Psalmen eine andere, wahrscheinlich unsere komplette Kultur.
Beispiel? Nehmen wir den vielleicht bekanntesten der Psalmen, den 23-sten. Kaum eine Beerdigung, die ohne die Naturbilder von der weidenden Herde, dem frischen Wasser und dem dunklen Tal auskam. Keine Beerdigung – und lustigerweise auch so gut wie keine Taufe. Achja…, und die vielen Hochzeiten. Der 23. Schweizer Taschenmesser Psalm, für alle Zwecke quasi…
Das Hirten-Herdenmotiv ist derart tief im Allgemeinbewusstsein verwurzelt, dass es für den Lebensbeginn ebenso taugt wie für’s Lebensende. Bischöfe tragen den Hirtenstab, Jesus spricht im Johannesevangelium von sich als dem „guten Hirten“. Die evangelischen Pastoren tun’s ihm verbal nach: „Pastor“ ist das lateinische Wort für „Hirte“.
Selbst Religionskritiker arbeiten sich am Hirten-Herdenbild ab: Steht in den biblischen Gleichnissen der Schutzgedanke im Vordergrund – der Hirte, der die Herde vor Gefahren bewahrt – erkennt die kritisch-polemische Lesart in demselben Naturbild die „schaf-dummen Christusgläubigen“ – im Blog verlinke ich Euch eine Seite, die ein paar entsprechende Texte und Karikaturen zusammenträgt.

Diese Art der Kritik funktioniert unter anderem deshalb so gut, weil diese Natur-, Engel- und Gottesbilder in unserem – um einen Begriff von Carl Gustav Jung zu verwenden – kollektiven Unterbewußten verankert sind. Wie sind sie dort hinein gekommen? Wir nutzen sie im Computer- und Internetzeitalter immer noch.
Vielleicht – auch – durch unentwegte Wiederholung jener Texte, die die Bilder in sich tragen?
Die Fülle der Musik, die in der Jahrtausenden im Juden- und Christentum auf Basis der Psalmen geschrieben worden ist, ist jedenfalls unüberschauber. Die Psalmen zählen zum innersten Kern des Textbestandes beider Religionen. In der frühen Neuzeit waren sie gar eine geistliche Quasi-Währung, mittels derer die Angehörigen aus dem Höllenfeuer befreit werden konnten. Die Psalmen wurden vermutlich billiardenfach gesprochen, gebetet, musiziert. Allein in der Kathedrale von Cluny/Frankreich riss der Strom der Psalmgebete im Hochmittelalter vermutlich niemals ab. Tag und Nacht nicht. 365 Tage im Jahr erklangen dort von irgendwoher für’s Seelenheil von irgendwem irgendeiner, meist mehrere, der 150 Psalmen. Eine Gebets-Währung, eingetauscht gegen handfestes säkulares Gold- und Silbergeld. Bis…, nun…, bis irgendwann Luther kam.

Noch einmal zurück zu unserer Achsa. Das Schilfmeer-Canticum verweist in ihre Epoche, also von uns aus etwa 3500 Jahre zurück. Die Psalmen werden der Tradition nach König David zugeschrieben. Der wird nicht 150 Lieder gedichtet haben, aber es scheint mir ein Hinweis darauf, dass die Psalmen bereits zur Zeit des ersten, des salomonischen Tempels Teil der Kultmusiken gewesen sein könnten. Damit würden Juden und Christen ein textliches Erbe teilen, das 3500 Jahre weit in die Vergangenheit zurückreicht, bevor die Überlieferungskette im Dunkeln der vorschriftlichen Zeit verschwindet – und selbst dazu kann Achsa noch etwas berichten. Jedenfalls die Achsa, die Händel und sein Textdichter Thomas Morell gestaltet haben. Hört ihr noch einmal zu:
HÄNDEL

Sie singt in ihrer Freude von „Yubals lyre“ und „Miriams tuneful voice“ und bedauert, beides nicht zu haben, um ihrem Jubel adäquaten Ausdruck zu geben. „Miriams klangvolle Töne“…, sind offensichtlich ein Verweis auf das „Schirar Hajam“, das Schilfmeerlied. Aber „Yubals lyre“? Händels Biograph und Herausgeber seiner Werke, Friedrich Chrysander, übersetzt es mit „Jubals Harfe“.
Jubal? Wer ist Jubal?

Nun…, wir sind in den Gründungsmythen der jüdischen Religion angekommen. Also in den ersten Kapiteln der Bibel. Jubal wird in den Stammbäumen erwähnt, im 1. Buch Mose, Kapitel 4, Vers 21. Dort erscheint er in der 6. Generation nach Kain – genau, der, der seinen Bruder Abel erschlagen hatte. Jubal wird dort als der Stammvater der Flöten und Harfenspieler erwähnt, also als mythischer Ahne der Musik.
Schaut Ihr genauer hin, fällt auf, dass der Stammbaum die wesentlichen Bereiche der menschlichen Gesellschaft und Kultur abdeckt. Im Grunde beginnt es in Vers 16 mit dem Schluss der Brudermordgeschichte. Kain verlässt Eden und besiedelt das Land im Osten, Richtung Sonnenaufgang.
Der erste Sohn Kains, Henoch, taucht im esoterischen Denken noch heute als einer der aufgestiegenen Meister auf: Henoch ist, der Bibel zufolge, nie gestorben. In 1. Mose 5 wird er nach 365 Lebensjahren von Gott aufgenommen. Dass diese 365 „zufällig“ der Anzahl der Tage im Jahr entspricht, ist vermutlich vermutlich kein wirklicher Zufall.

Aber weiter in der Familiengeschichte…: Ihr erinnert Euch: Kain zieht von Eden fort gen Sonnenaufgang. Die Menschheit macht sich auf den Weg. Henoch wird in 1. Mose 4 als Städtebauer vorgestellt. Die nächsten Generationen bleiben ohne Erwähnung irgendwelcher Werke. Mit der Familie von Jubal jedoch tritt die Kultur auf den Plan. Jubal selbst wird, wie gesagt, zum Begründer der Musik.
Jabal, sein Bruder, wird uns als Stammvater der Viehzüchter vorgestellt und als Ahnherr derer, die in Zelten wohnen – also aus Henochs Stadt hinausgehen und die Welt erobern. Der Vater der beiden Brüder hieß Lamech. Er war mit zwei Frauen verheiratet. Mutter von Jabal und Jubal ist Ada, die erste Ehefrau Lamechs. Und auch die zweite Gattin Zilla gebar einen Sohn, den Halbbruder der beiden ersten und zugleich, soweit ich’s weiß, der erste Mensch mit Doppelname: Tubal-Kain hieß er. Ihm wird die Schmiedekunst zugeschrieben.
Im Hebräischen gibt es das Wort Jobel – das Widderhorn. Alle drei Namen, Jabal, Jubal und Tubal, sind hiermit verwandt – die Brücke vom Widderhorn über den Metall verarbeitenden Tubal-Kain hin zu den Blechblasinstrumenten liegt zumindest gedanklich nahe.

Musik.
In der althebräischen Tradition ist sie fundamental in den Grundmythen des Jüdischen Volkes verankert. Sie zählt zum innersten Bestand der Kultur, sie hat einen namentlich genannten Urahn, dessen Stammbaum in direkter Linie auf das erste Menschenpaar zurückführt – und damit auf Gottes Schöpfung am Anfang.
Was ist Kirchenmusik, was gehört zu ihr hinzu? Das war die Frage der ersten Folge. Dort hatten wir eine liturgische Antwort. Und hier? Im Gründungsmythos des jüdischen Volkes? Musik wird zu einem der Bausteine einer ganzen Kultur? Wäre das in einer archaischen Gesellschaft ebenfalls eine liturgische Antwort? Oder wäre diese mythische Wahrheit noch viel grundlegender?

Eigentlich wollte ich hier einen letzten Schritt machen. Denn – wenn die Musik für Gott so wichtig ist, dass er sie in den Fundamenten der menschlichen Gesellschaften verankert – oder dies jedenfalls zugelassen hat, warum tut er das.
Was bedeutet Musik für Gott? Wer ist dieser Gott, dem die Musik so wichtig ist? Liefern die Quellen Antworten?
Ganz kurz: Ja.
Aber: Die Antworten sind so facettenreich und umfassend, dass sie mir diese Episode gesprengt haben. Deswegen kommt hier nur noch der Schlussgruß. Der Rest folgt in der nächsten Dreistromgeschichte.
Also: Dank Euch für’s Zuhören! Bleibt gesund und genießt das Leben!