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Folge 4 – Zurück in die vorchristliche Zeitel

von Thomas Jung | Dreistromgeschichten

In der letzten Folge hab‘ ich davon erzählt, wie die christliche Kirchenmusik in den antiken Traditionen, insbesondere in denen der jüdischen Welt, verwurzelt ist. Wir haben uns erinnert, dass nicht nur Jesus von Nazareth Jude war. Paulus war es ebenfalls, und mit ihm die ersten Apostel. Das Christentum beginnt als jüdische Sekte. Es wäre kaum nachvollziehbar, wenn die Mitglieder der neuen Glaubensgemeinschaft versuchen sollten, ihr Lebensumfeld plötzlich zu verlassen und in allem neu zu beginnen.
Das gilt auch für die Gottesdienste. Das Judentum hat bereits zur Zeit Jesu seit Jahrhunderten etablierte liturgische Formen, auch im Bereich der Musik. Auf denen baut das junge Christentum auf.
Erzählt hab‘ ich Euch von den Psalmtönen und davon, wie die in den jüdischen Synagogal-Lesungen verwurzelt sind. In dieser Folge möchte ich mit Euch weiter in der Zeit zurückgehen. Dazu müssen wir unseren Blick auf das zweite große Gebiet der jüdischen Sakralmusik richten und nach Jerusalem reisen – und zwar vor das Jahr 66 unserer Zeitrechnung.

Ihr wisst, dass Judäa zur Zeit Jesu unter römischer Besatzung stand. Der Feldherr Pompejus hatte die Gebiete des heutigen Israel im Jahre 63 v. Chr. erobert und dem Imperium Romanum angegliedert. Seither gab es Widerstand gegen die staatliche und religiöse Unterdrückung. Bereits im Jahr 26 n. Chr. erhoben sich unter Pontius Pilatus fromme Juden gegen Rom, als diese in den Abbildungen des römischen Kaisers im Tempelareal ein Verbot gegen das mosaische Bilderverbot erkannten.
Im Jahr 66 n. Chr. kam zum Krieg. Die Chronologie dieses Jüdischen Krieges hat Flavius Josephus niedergeschrieben. Josephus, Sohn des Matthias, wie er gebürtig hieß, war ein römischer Historiker mit jüdischen Wurzeln, gegen 40 n. Chr. hineingeboren in eine angesehene Jerusalemer Priesterfamilie.
Hier ist nicht der Ort, um den Kriegsverlauf nachzuerzählen. Wesentlich ist das aus jüdischer Perspektive katastrophale Endergebnis, dass ich am Ende der letzten Folge vorweg genommen hatte: Die Zerstörung des Tempels im Jahre 70 durch den römischen Oberbefehlshaber Titus.
Wirklich beendet war dieser Krieg erst weitere blutige vier Jahr später, mit der tragischen Eroberung d er Felsenfestung Masada. In ausweglose Lage hatten sich die fast tausend Eingeschlossenen in einem organisierten Akt des Suizids gegenseitig getötet, um nicht den Römern in die Hände zu fallen.

Mit dem Fall des Tempels verlor das jüdische Volk sein kultisches Zentrum. Die politischen, sozialen und religiösen Folgen führen weit über die Themen unseres Dreistromlandes hinaus. Mit der Zerstörung Jerusalems bricht aber auch die Tradition der Tempelmusik ab. Und die hatte eine prachtvolle Vergangenheit.
Zunächst zum Tempel selbst: Er war das zentrale Bauwerk des Judentums. Der Tempel, den Titus zerstörte, war bereits der zweite in der jüdischen Geschichte. Der erste ging auf König Salomo zurück, nach Saul und David der dritte König des jüdischen Volkes. David, der Vater Salomos, machte Jerusalem zur Hauptstadt, während Salomo gegen 960 v. Chr. den ersten, den salomonischen Tempel dort errichtete. Dieser erste Tempel wurde 586 v. Chr. im Krieg gegen Nebukadnezar II. geplündert und in der Folge zerstört. Das jüdische Volk geriet in babylonische Gefangenschaft und erst mehr als hundert Jahre später kehrte das Volk unter der Führung Esras zurück. Über den Ruinen des ersten Tempels errichteten die Rückkehrer in der Folge eben jenen zweiten Bau, der rund 450 Jahre später durch die römischen Legionen unter Titus endgültig zerstört wurde.

Wir beschränken uns hier auf die Tempelmusik. Die unterschied sich massiv von der Art des synagogalen Gesangs, von dem ich in der letzten Folge erzählt habe. Der Tempel bot Raum zur Prachtentfaltung – und, beginnen wir mit den Schattenseiten, offenbar auch Raum für ein gewohnheitsmäßiges Brimborium seelenloser Gottesdienste. Der alttestamentliche Prophet Amos richtet im 5. Kapitel von Gott aus, dass dieser an der Musik ebensowenig Gefallen habe wie an den Brand- und Speisopfern. Weder die Feiertage noch die (liturgischen…) Versammlungen fänden Gnade vor den Augen Gottes.
Hintergrund ist ab Vers 10 notiert: Soziale Ungerechtigkeit und Ausbeutung Schwächerer bestimmten damals das alltägliche Leben. Wo im täglichen Miteinander Intrigen und Knute regieren, werden die Gottesdienste zum Feigenblatt, dass die Ungerechtigkeiten übertünchen soll. Mit einer solchen Geisteshaltung wird Musik, auch liturgische Musik zum, wie Luther übersetzt, „Geplärre“.
Ein Kapitel weiter wird das Dichten von Liedern und das Psalterspielen erneut als leer verdammt. Auch hier, in Amos 6, geht es freilich nicht um das Liederdichten per se. Es geht um das Liederdichten aus einer Haltung der Anmaßung, des grundlosen Stolzes. Luther verwendet hierfür im achten Vers den heute ein wenig altertümlich anmutenden Begriff der „Hoffart“.
In der ersten Folge hatten wir uns an einer eine Begriffsbestimmung der Kirchenmusik versucht. Eine Musik, die per definitionem das Göttliche reflektiert, hat die möglicherweise größte Fallhöhe, die in der Musik möglich ist. Amos, der Prophet, zeigt, wie sie sich äußert. Offensichtlich gehört zur sakralen Musik eine Haltung des Respekts, nicht nur gegenüber Gott, sondern explizit auch gegenüber der Mitmenschen. Wird selbst liturgische Musik zum inhaltslosen Lärm, wenn es Ausbeuter sind, die musizieren?

Der Gedanke ist ungebrochen modern. Dietrich Bonhoeffer, der evangelische Theologe und Widerstandskämpfer im nationalsozialistischen Deutschland, hat ihn 1938 drastisch neu formuliert:

„Nur wer für die Juden schreit, darf gregorianisch singen.“

Und wer in Nazi-Deutschland nicht für die Juden schreit? Ist selbst die kunstvollste Kirchenmusik abhängig von der geistigen Haltung derer, die musizieren? Oder schreiben? Die Antwort des alttestamentlichen Propheten Amos ist bereits im 8. vorchristlichen Jahrhundert eindeutig: „Tut mir weg das Geplärre eurer Lieder“. Die Antwort der Nazis war, 2700 Jahre danach, ebenso eindeutig. Bonhoeffer war einer von Millionen, die sie nicht überlebt haben.

Nach dem Verlust des Tempels beschränkt sich die jüdische Liturgiemusik auf den unbegleiteten Gesang. Bis heute hat sich kaum etwas daran geändert. Jüdische Kantoren sind in der Tat vor allem „Kantoren“ – im Sinne der ursprünglichen lateinischen Bedeutung dieses Wortes, also Sänger. Die Begleitung der liturgischen Gesänge ist, wenn überhaupt, sparsam. Von der Kultmusik im Jerusalemer Tempel berichtet die Bibel hingegen anderes.

Was wissen wir? Nun…, zunächst einmal war die Musik Teil des Tempeldienstes. Der oblag den Leviten. Die Leviten bildeten einen der zwölf Stämme, die das Volk Israel insgesamt ausmachten. Jeder dieser Stämme leitet sich zurück auf einen der Söhne des biblischen Stammvaters Jakob, im Falle der Leviten ist das Jokobs dritter Sohn, Levi. Das alttestamentliche 2. Buch der Chronik berichtet in Kapitel 29 von König Hiskia, der in seiner Regierungszeit die Tempelgottesdienste erneuert hatte. Ab Vers 25 findet Ihr Einzelheiten bezüglich der Musik. Das Instrumentarium war umfassend. Verschiedene Saitenspiele, dazu Blas- und Schlaginstrumente, außerdem Gesang, offenbar solistisch wie chorisch. Trompeten werden erwähnt, Harfen und Psalterien. Das Psalterium meint hier eine Zupfinstrumentengattung, wahrscheinlich eine frühe Form der Zither. Zimbeln, also kleine Handbecken, waren ebenfalls Teil des Tempelorchesters.
Insgesamt ergibt sich der Eindruck eines sehr obertonreichen, vielleicht sogar schrillen Gesamtklang. Allerdings wurde im Freien musiziert, für große Grundflächen. Insofern macht die helle Klanglichkeit aus pragmatischen Gründen Sinn…
Die Aufstellung von Schlagwerk und Saiteninstrumenten wird in Vers 25 auf König David zurückgeführt, der selbst die Harfe beherrschte. Und auch vor der Zeit Hiskias, unter König Salomo, wird von großen Blechbläserchören in den Tempelfeldern berichtet. Offensichtlich gab es bereits in der jüdischen Antike eine Art sakraler Monumentalmusik, die in krassem Gegensatz zu der sparsamen Neuorientierung der jüdischen Musik nach dem Fall des Tempels im Jahre 70 nach Christus steht.

Ihr merkt, dass wir zeitlich mittlerweile um Jahrhunderte zurück gewandert sind. Um Euch eine Orientierung zu geben: König Hiskia regierte im achten Jahrhundert vor Christus – übrigens zur gleichen Zeit wie der sozialkritische Prophet Amos, von dem wir vorhin bereits gehört haben. Wenn das 2. Buch der Chronik Recht hat, hatte Hiskia bereits vor etwa 2750 Jahren eine umfassende Liturgiereform initiiert, die, so deutet es Kapitel 31 des Buches an, mit einer Sozialreform einher ging.

Die Königszeit Israels beginnt etwa 1000 v. Chr. Biblische Quellen erzählen ausführlich von dieser Epoche. Saul, der erste König, lebt gegen 1000 v. Chr. Er litt offenbar unter dem, was wir heute als Depression bezeichnen. Noch zu seinen Lebzeiten wurd e der jüngste Sohn Isais, David, zum König gesalbt und kam wohl gegen 980 vor unserer Zeitrechnung auf den Thron. David war, wie bereits erwähnt, ein fähiger Harfenspieler – wobei die antike Harfe nichts mit unseren modernen Konzertharfen zu tun hat. David wird vielmehr mit einem tragbaren Zupfinstrument seinen eigenen Gesang begleitet haben. Die Bibel berichtet, dass er mit seiner Musik Sauls depressive Schübe lindern konnte. Im Grunde ist es, wenn man will, ein recht frühes Beispiel einer musiktherapeutischen Behandlung.
Ein unrühmliches Kapitel in der Vita Davids ist seine Ehe mit der schönen Bathseba. Falls Ihr die Geschichte nicht kennt, könnt Ihr sie im Skript dieser Episode auf meinem Blog dreistimmig.com nachlesen. Sie nachzuerzählen führt hier zu weit. Jedenfalls: Der erste gemeinsame Sohn der beiden stirbt. Der Zweitgeborene ist Salomo, der gegen 960 v. Chr. den Thron besteigt. Mit ihm beginnt eine goldene Ära. In seine Regierungszeit fällt die längste Friedensperiode, die Israel je hatte. Die Weisheit Salomos wurde sprichwörtlich, sein Reichtum ebenfalls. Glaubt man den Quellen, war Salomo einer der reichsten Menschen, die überhaupt je gelebt haben.
Salomo, wie gesagt, wird den ersten Tempel erbauen. Zu seinem Reichtum passt auch die Pracht der Gottesdienste und die der monumentalen Tempelmusiken. Kapitel 5 des 2. Chronikbuches erzählt von der Tempeleinweihung, bei der ein Trompetenchor aus 120 Priestern mitgewirkt hatte. In demselben Abschnitt werden Familien aufgelistet, die in weißen Gewändern für die kultische Musik sorgten. Im Gegensatz zu Amos war, so schließt das Kapitel, bei Salomo der „Geist des Herrn“ gegenwärtig.

Kernstück der Gottesdienste waren offenbar die Brandopfergaben, während derer große Chormusiken stattfanden. Das zweite Buch Chronik berichtet, wie mit dem Rauch die Gesänge der Priester und des Volkes aufstiegen.

Kurzes Kontrastprogramm – und zur Erinnerung: Ihr hört den Dreistromland-Podcast. Mein zugehöriger Blog heißt dreistimmig.com – und der Schwerpunkt des Notenbereichs liegt nicht umsonst auf drei Stimmen und kleinen Besetzungen. In unserer Zeit sind nicht wenige Chöre so geschrumpft, dass vier Stimmen kaum realisierbar sind. Eine Kirchenmusik, bei der mehrere Hunderte Menschen mitwirken, kennen wir höchstens noch von einzelnen großen „Events“, die monatelange Organisation voraussetzen.

Hingegen wurden, wenn wir den biblischen Chroniken glauben dürfen, bereits vor dreitausend Jahren monumentale Sakralmusiken auf die Beine gestellt. Stellt Euch die Szenen bildlich vor: Etwa hundert Blechbläser, umrahmt von einer vermutlich mindestens ebenso großen Anzahl Instrumentalisten mit Saiteninstrumenten und Schlagwerk. Dazu offensichtlich professionelle Chorgruppen, die das gesamte Volk mit einbezogen. Zugegeben: Ich wäre ziemlich neugierig, wie das wohl geklungen haben mag! Leider haben wir genau davon keine Ahnung – aber immerhin: Der Umstand, dass die Bibel sogar die Namen der Musikerfamilien überliefert, spricht zum einen für die Wertschätzung der Tempelmusiken an sich, zum anderen für die soziale und fachliche Anerkennung der ausführenden levitischen Musiker. Mir scheint, unsere aktuelle Kirchenmusik hat hier generell ein wenig eingebüßt…

Diese Episode geht zu Ende, und wir sind am Beginn der jüdischen Sakralmusik angelangt. Oder? Naja…, fast. Aber davon erzähl‘ ich Euch in der nächsten Folge unserer Dreistromgeschichten. Bis dahin Euch allen eine gute Zeit. Bleibt gesund und genießt das Leben!

Beitragsbild: Modell des Jerusalemer Tempelplatz zu Beginn des Jüdischen Krieges, um 66 n.Chr.

Quelle: deutsche Wikipedia

Nachtrag: Bathseba, die Mutter des Königs Salomon

Gier und Triebe machen einen König zum Mörder: Die Geschichte von Bathseba und David.

Bathseba war schön. Sehr schön. Und sie war verheiratet. Eines Tages badete Bathseba auf dem Dach ihres Hauses. David, der König, beobachtete sie von seinem Palast aus. Sofort erkundigte er sich nach ihr, erfuhr, dass sie mit einem seiner treuen Soldaten liiert war, dem Hethiter Urija. Der war bei den Truppen im Dienst, und David, geblendet von ihrer Schönheit, ließ sie zu sich holen.

Bathseba wurde schwanger. David bot Urija daraufhin einen Urlaub an, den dieser mit seiner Ehefrau verbringen solle. Damit wäre die Vaterschaft Urijas belegt und ein Skandal abgewendet. Urija aber, treu an der Seite der Truppen und des Königs, lehnte ab, da Jerusalem von den feindlichen Ammonitern belagert war. In einer Geheimdepesche an seinen Oberbefehlshaber Joab sorgte David dafür, dass Urija beim nächsten Gefecht seinen Platz in der ersten Reihe haben solle, wo er mit Sicherheit fallen würde

Cornelis Cornelisz van Haarlem (1562-1638): Bathseba beim Bade. Quelle: Wikipedia

So geschah es, und David heiratete nach der Trauerzeit die schöne Bathseba. In sein düsteres Glück hinein erhielt David unerwarteten Besuch des Propheten Samuels. Der berichtete dem König von einem Mann, so reich wie geizig, der, um einen Besucher zu bewirten, das einzige Lamm seines armen Nachbarn schlachten ließ, seine eigene, große Herde aber schonte.

David fällte das schnelle Urteil über den Mann – der, wie ihm Samuel nach der Verdammung eröffnete, niemand anders sei, als er, der König, selbst. David habe Land, Geld, Güter, Frauen ohne Ende, dennoch nahm er die einzige Frau seines treuen Soldaten, um diesen dem Tode zu überantworten.

An dieser Stelle beweist David zum ersten Mal wirkliche Größe. Keine Ausflüchte dem Propheten gegenüber, kein Versuch einer Verteidigung. Er übernimmt mit einfachen Worten die Verantwortung – und erfährt dadurch Gnade. Das gemeinsame Kind wird sterben, die Ehe zwischen ihm und Bathseba, sein Königtum, sein Leben, alles bleibt ihm.

Es geschieht, wie Samuel, der Prophet, es vorhersagt. Das erste Kind stirbt. Das zweite jedoch wird leben. Es wird den Namen Solomon erhalten und zum König über Israel werden, unter dessen Herrschaft das Volk die längste Zeit des Friedens und des Reichtums in seiner Geschichte erleben wird.

Die Geschichte steht im Alten Testament. Wer sie nachlesen möchte, kann das im Buch Samuel, Kapitel 11 tun.