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Beitragsbild: Urknall. Künstlerische Darstellung. Quelle: Stock-Media-Library

Ein Puzzle aus Bach und moderner Kosmologie: Teil 3

von Thomas Jung | Dreistromgeschichten

Dritter, schließender Teil dieser Dreistromgeschichte

Willkommen im dritten und letzten Teil unserer Dreistromgeschichte. Für die unter Euch, die hier neu zuschalten, noch einmal meine dringende Bitte: Sofern Ihr mit den Begrifflichkeiten der modernen Kosmologie und denen des Bachschen Spätwerks nicht vertraut seid, dann hört bitte zuerst die beiden anderen Episodenteile! Ansonsten bleibt dieser Teil unverständlich!

Im ersten Teil unserer Folge hatten wir die nötigen Fachvokabeln und einige Hintergründe geklärt. Im zweiten Teil haben wir die Konzeptionen hinter diesen Vokabeln ausgebreitet. In diesem schließenden dritten Teil fügen wir unserer Puzzle paralleler Strukturen zusammen.

Beginnen wir mit der Physik: Wenn die „Baryonische akkustische Oszillation“ tatsächlich stattgefunden hat, und wenn sie mit der Trennung von Materie und Strahlung zu Ende war, bedeutet dies in der Konsequenz, dass sich die ersten Galaxien nicht einfach „irgendwie“ und „irgendwo“ gebildet haben. Sie müssten bevorzugt in bestimmten Zonen zu finden sein: Nämlich genau in den Bereichen, in die die Oszillationswellen 380.000 Jahre lang all‘ das Zeug hingeschoben haben, aus dem Sterne und Galaxien überhaupt erst entstehen können. Da das Weltall aufgrund der Raumexpansion immer größer wird, werden auch die Abstände zwischen den Materiebereichen immer größer.

Perspektivwechsel

Wenn wir Bachs Werk als Schwingungsmuster hören, dürften die Ostinati nicht einfach „irgendwo“ auftreten. Sie müßten bevorzugt in bestimmten Zonen erscheinen. Stimmt das? Wir hatten bereits bemerkt, dass die Räume zwischen den Ostinati immer größer werden. Beliebig größer? Schauen wir nach. Wir könnten zählen, wie viele Takte das Pedal zwischen seinen Einsätzen jeweils pausiert. Der erste Einsatz folgt, das wissen wir bereits, sehr zu Beginn: Nach drei Volltakten erklingt das Pedal zum ersten Mal. Hier vorne ist die einzige Region, in der Bach nur nur zwei Oberstimmen schreibt.

Zwischen den folgenden drei Pedal-Ostinati liegen zunächst fünf, dann sechs, schließlich sieben Takte. Die drei Oberstimmen sind, ohne Pause, alle ununterbrochen aktiv und gegenwärtig.

Offensichtlich entsteht in einer Art, nun…, „Abstands-Gruppe“, die Reihe der natürlichen Zahlen 5, 6, 7. Danach endet ziemlich genau die erste Hälfte des Stücks.

In der zweiten Hälfte werden die Abstände zwischen den Pedalostinati deutlich größer. Zum fünften Ostinato dauert es 14 Takte, zum letzten weitere 25 Takte, in denen das Pedal pausiert.
Hat Bach die Anzahl der leeren Pedaltakte ungefähr verdoppeln wollen? Es sieht so aus. 7 * 2 würden genau die 14 ostinatofreien Takte ergeben. 14 * 2 wären 28, also etwas mehr als die 25 pedalfreien Takte, die in den Noten stehen. Die wahrgenommene Proportion der Ostinatoverteilung stimmt dennoch.

Perspektivwechsel

Der Clou: Rechnungen und Beobachtungen stimmen ziemlich gut überein. Die frühen Galaxien finden sich in der Tat genau da, wo den Computersimulationen zufolge die Materie von der Akkustischen baryonischen Oszillation in den immer größer werdenden Raum hingeschoben worden ist. Diese Simuliationen liefern damit zugleich eines der stärksten Argumente für die reale Existenz der Dunklen Materie und deren Eigenschaften.
Denn: Würde die Dunkle Materie mit elektromagnetischer Strahlung auch nur minimal wechselwirken, dann wäre sie in der extrem harten Strahlung des frühen Universums zusammen mit den Baryonen im Raum verteilt worden. Die Lage der Materie im Raum wäre völlig verschieden gewesen von der, die die Computerberechnungen liefern. Wir finden und beobachten die frühen Galaxien aber in genau den Bereichen, die wir aufgrund der Simulationen erwarten. Oder anders formuliert: Sie sind dort, wo sie nach 380.000 Jahren der Akkustischen Baryonischen Oszillation sein sollten.

Perspektivwechsel

Der Clou: Zählung und Höreindruck stimmen ziemlich gut überein. Die sechstaktigen „Gottes-Ostinati“, tauchen sechs Mal auf. Anscheinend bilden drei dieser Einsätze eine Ostinato-Dreiergruppe, die von den 5, 6, und 7 ostinatofreie Takten getrennt sind. Die drei anderen Ostinati gliedern den größer werdenden Raum nach dem ungefähren Prinzip der Abstandsverdoppelung.
Der Raum…, merkt Ihr, dass wir die Vokabeln gerade austauschen? Verteilen sich die Ostinati nach ähnlichen Maßstäben, wie die baryonische Oszillation auch die Galaxien im frühen Universum verteilt hat? Bachs Choralbearbeitung beginnt aus einem einzelnen Ton, aus einem Punkt, die musikalischen Strukuren werden größer. Das Universum beginnt in einem einzigen Punkt, wird inflationär größer, strukturiert sich, in ostinaten Materiegürteln…

Der letzte Perspektivwechsel. Oder?….

Der Clou bei Bach: Zählung, Höreindruck und Zahlensymbolik stimmen ziemlich gut überein. Bach schreibt ein Pedal-Ostinato, das sich drei Takte aufwärts, drei weitere Takte abwärts bewegt. Insgesamt also sechs Takte.
Diese Linie taucht im Stück insgesamt sechs Mal auf. Nach dem ersten Erklingen ab Takt 3 stehen die drei folgenden Ostinati relativ dicht aufeinander, nämlich im Abstand von 5, 6 und 7 Takten.
Die beiden letzten Ostinati gliedern den größer werdenden Raum nach dem ungefähren Prinzip der Abstandsverdoppelung. Der größer werdende Raum…, merkt Ihr, dass wir die Vokabeln gerade austauschen?
Es beginnt aus einem Punkt, es wird inflationär größer, strukturiert sich, in ostinaten Materiegürteln. Sprechen wir vom frühen Kosmos? Oder von Bachs Choralbearbeitung? Antwort: Hier, an diesem Punkt, ist es egal. Das eine beschreibt das andere, das andere das eine. Chiffriert Bachs Musik das Universum, das All-Eine? Oder chiffriert sie den einen Gott, den Luther besingt, den All-Einen? Würde Bach einen Unterschied machen, würden wir ihn fragen können? Spiegelt sich die Struktur von Bachs Musik im Aufbau des Universums? Oder umgekehrt?

Fazit

War Bach ein quantenphysikalischer Visionär? Nein. Ganz sicher nicht! Lassen sich Musikstücke mit Mitteln der physikalischen Vorgänge und Proportionen beschreiben? Es ist unorthodox, aber, nun…, warum nicht?

Wir können die Musik theologisch lesen, haben es eben bereits getan. Hier eine Zusammenfassung aus allen drei Episodenteilen: Wir finden in der Choralbearbeitung eine Reihe von Hinweisen auf den (bei Bach christlich-trinitarischen) Gott:
Da ist der Aufbau des Ostinato mit seinen drei auf- und drei absteigenden Takten. Vielleicht ein Trinitäts- und Christussymbol, im ersten Teil hab‘ ich’s erklärt.
Zum anderen die Ostinato-Abstandsgruppen: Ein erstes Erklingen der Ostinato-Linie zu Beginn des Stücks, in Takt drei. Bis zur Hälfte des Stücks drei Ostinati mit jeweils 5, 6, 7 Takten Abstand. In der zweiten Hälfte der Choralbearbeitung schließlich zwei weitere Ostnati mit ungefähr verdoppeltem Abstand. Wir können, wenn wir wollen, drei Ostinato-Abstandsgruppen erkennen, mit 1 und 3 und 2 Mitgliedern. 1, 2, und 3…, drei Grundzahlen in drei Gruppen, die symbolisch seit Pythagoras ebenfalls auf das Ganze und auf die Schöpfung verweisen: Aus dem Ursprung, dem Einen, der Gegenpol, die Zwei. Aus beidem ein Neues, ein Drittes.
Dann haben wir die pausenlose Dreistimmigkeit in den Manualen. Die Drei ist allgegenwärtig. Oder die Dreieinigkeit? Ich hab’s erwähnt: Diese Dichte des Satzes fällt jedenfalls auf.
Schließlich die Zahl 100: Die Zahl der Fülle, der Vollkommenheit. Im Blog verlinke ich Euch eine Quelle. Bachs Stück ist exakt 100 Takte lang.

Und die menschliche Seite? Allgegenwärtig eben auch das andauernde „Stolpern“ über die Synkopen in Bachs Manualthema: Wir, als Menschen, glauben all‘ an einen Gott…, kriegen das aber nie hin. Und dennoch bildet der unvergängliche, unveränderliche Gott das Fundament der gesamten Schöpfung…

Was heißt das jetzt alles? Hat Bach das so gewollt? Meine Antwort: Ich… weiß es nicht.
Bach HATTE einen Bezug zur Zahlensymbolik. Ja!
Bach HATTE in dieser chiffrierten Art gedacht. Ja!
Und dieses Denken passt zu Bachs reifem Schaffen – zum dem der „Dritte Theil der Clavierübung“ definitiv hinzuzählt.
Aber…, mit der Zahlensymbolik bewegen wir uns auf sehr dünnem Eis. Ist es sicher, dass das Stück 100 Takte lang sein sollte? Dass Bach es genau so entworfen hatte?
Es ist möglich. Aber nicht sicher. Es gibt Hinweise. Indizien. Aber die sind objektiv schwach. Was sein Lebenswerk angeht, da war Bach eben auch verschlossen wie die sprichwörtliche Auster. Es gibt, von ihm selbst, so gut wie keine konkreten Äußerungen zu seinem Schaffen. Bachs eigentliche Intentionen bleiben uns verborgen. Gewissheit über Bachs innere Motivationen gibt es beim derzeitigen Quellenstand keine.

So…, und anders herum, die Physik? Was bedeutet sie? Heißt es, dass die Elohim ihr „Es werde Licht“ in Form einer baryonischen Oszillationswelle gesungen hätten? Hey…, „DAS“ wär‘ mal ein Thema für ’ne Sonntagspredigt

Nebenan findet ihr einen Witz. Wo ich den her hab‘, verrat‘ ich nicht. Von mir ist er nicht. Leider!…. Erzählen kann ich ihn auch nicht gut, müsst Ihr lesen.

Nein, nein…, was mich fasziniert ist, dass wir Werkzeuge der Akkustik – damit auch solche der Musik, mit den Werkzeugen der Quanten- und Teilchenphysik verbinden können und plötzlich in der Lage sind, zum Beginn des Universums zurückzuschauen.
Oder mit einem Begriff Gustav Mahlers: Wir tun einen Blick in’s Urlicht des, aller-, allerersten Anfangs. Und das in einer Kirchenmusikgeschichte. Ok…, einer erweiterten Kirchenmusikgeschichte. Trotzdem: Hättet Ihr am Anfang unserer Zeitreise gedacht, dass sie uns 13,7 Milliarden Jahre zurücktragen würde?

Warum läßt sich zuweilen musikalisches Denken hier auf naturwissenschaftliches Denken dort zu übertragen?
Wir haben mit Literatur begonnen, lasst uns mit Literatur aufhören. Berthold Brecht hat die Frage in seinem „Leben des Gallilei“ beantwortet.

Der 7. Teil seines Schauspiels spielt im Hause des Kardinals Bellarmin in Rom. Gallilei trifft dort auf einen zweiten Kardinal, auf Barberini, den späteren Papst Urban VIII. Dieser provoziert den berühmten Physiker. Barberini zeichnet mit der Hand eine, wie Brecht es notiert, „äußerst verwickelte Bahn mit unregelmäßiger Geschwindigkeit“ in die Luft. Wenn es Gott, so fragt der Kirchenmann den Physiker, wenn es Gott gefallen hätte, die Gestirne in dieser irregulären Form laufen zu lassen, was würde dann aus Gallileis ganzer, allzu „bequemer“ Astronomie.

Gallileis antwortet prompt: „Eminenz“, so erwidert der Wissenschaftler, „Eminenz, hätte Gott die Welt so konstruiert“, – er wiederholt Barberinis Bahn -, „dann hätte er auch unsere Gehirne so konstruiert“ – er wiederholt dieselbe Bahn -, „so daß sie eben diese Bahnen als die einfachsten erkennen würden. Ich glaube an die Vernunft.“

Soweit Brecht.
Wieso also funktioniert es, das mit dem Übertragen? Weil unsere Gehirne nach den gleichen, grundlegenden Regeln und Mustern funktionieren, sofern wir sie den Gesetzen der Vernunft gemäß benutzen. Ändern tun sich die Ebenen.

An dieser Stelle lasse ich Euch mit Euren Gedanken allein. Das war viel heute, oder?… Wer mag, kann weiter meditieren.
In diesem Sinne: Bleibt gesund, habt eine gute Zeit und genießt das Leben!